Sprache, Stimmen, Möglichkeiten
Monika Vasik
Am zweiten Tag bildete eine Vernissage zeitgenössischer visueller Poesie den Auftakt des Sechs-Stunden-Marathons von Lesungen und Performances. Kurator war Günter Vallaster, der als Fachmann für transmediale Kunst bereits die TRANSMEDIALE POESIEGALERIE 2018 betreut hatte. Denn visuelle Poesie war von Beginn an fixer Bestandteil der Poesiegalerie. Dieses Jahr hat Vallaster zehn Autor*innen eingeladen, einem breiten Publikum Werke zu zeigen, in denen mit ihren grafischen Gestaltungsmöglichkeiten das Spannungsverhältnis von Text und Bild künstlerisch auf ganz unterschiedliche Weise ausgelotet wird.
Christoph Theilers transmediale Performance SCRIBO bei der Vernissage der VISUELLEN POESIEGALERIE 2020 © poesiegalerie
Den Auftakt machte eine Performance des experimentellen Komponisten Christoph Theiler, der in seinem Werk SCRIBO Zeichen mit Musik verbindend einen transmedialen Raum öffnete. Zudem war er in der Ausstellung mit seinem Bild „Früchte der Quarantäne“ präsent, das mit seinen assoziativen roten und schwarzen Zeichen an japanische Kalligrafiekunst erinnerte. Es folgten ein Kurzreferat von Brigitta Höpler, die sich als Autorin mit den Themen Kunst, Stadt und Schreiben beschäftigt und ihre Arbeit „Raumdeutungen – (W)ORTE Fotonotizen“ ausstellte, danach eine Videobotschaft von Harald Gsaller, der mit den Arbeiten „Electric Sheep“ aus seiner Serie „Read the Signs“ vertreten war. Anschließend stellte Günter Vallaster im von Sesseln leergeräumten Saal und unter Einhaltung der Covid-19-Vorsichtsmaßnahmen kurz die weiteren Kunstwerke vor.
Vertreten waren das Duo united queendoms der Künstlerinnen queen utopia und queen dystopia mit ihrem Werk „dreizehnte fee“, das comicartig darstellt, wie visuelle Poesie entsteht; Michael Mastrototaro mit „UNIKAT“, einer kleinformatigen Fotografie, die ihn als Bub zeigt und die er übermalt hatte; Claudia Ungersbäck mit „Sculpturity“, einem Wort-Maschinen-Gedicht; Jochen Höller mit den Letternmosaiken „Portrait Aristoteles“ und „Regenbild“; Renate Pittroff mit „40 Tage“, einem Textbild aus Büroklammern; Thomas Havlik mit der asemantischen Collage „LADN“ sowie dem überarbeiteten Foto „Okular“; und Hanne Römer / .aufzeichnensysteme, die mit einer Serie aus zwölf Zeichnungen mit dem Titel „SATZ“ den Grat zwischen Text und Bild ephemer in Szene setzt.
In der längeren Lüftungspause wurde der Saal wieder bestuhlt und der Reigen vielfältiger Lesungen und Performances mit zehn Autor*innen unter der Moderation von Udo Kawasser und Monika Vasik konnte beginnen. Den Anfang machte Regina Hilber mit lyrischer Kurzprosa aus ihrem 2017 in der edition ch publizierten Band „ÜBERSCHREIBUNGEN von Wald bis Wien“, in dem sieben Variationen eines Ausgangstexts enthalten sind, den die Autorin poetisch überschrieben hatte. Hilber präsentierte die Abschnitte „Zirkus“ und „Rotmütze goes Berlin“, letzterer mit deutlichen Anklängen an das Rotkäppchen-Motiv. Im Anschluss las Rolf Seyfried aus seinem in der Edition fabrik.transit erschienen Debütband „Geh nicht ungeprüft in die Nacht“, einer Seelenreise in vier Akten, die in die Mitte der Endlichkeit führt und u.a. eine originelle Variante des Kürzels SMS (save my soul) beinhaltet.
Nach kurzem Umbau konnte das zahlreich erschienene Publikum zwei Klangereignissen beiwohnen und zunächst den Auftritt der Dichterin, Musikerin und Tänzerin Loulou Omer genießen. Die Polyartistin sang und performte ihre Texte aus der 2019 in der Kölner parasitenpresse erschienenen Anthologie „Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland“ (herausgegeben und übersetzt von Gundula Schiffer und Adrian Kasnitz) und begleitete sich selbst am E-Piano, eine feine Melange aus Klang, Wort, Atem und Rhythmus. Inspiriert von Loulou Omers Performance und dem Vorhandensein eines Klaviers lud Elke Laznia spontan ihre Tochter Miriam ein, sie auf dem Klavier zu begleiten, eine Aufführung, die zwar von beiden für frühere Auftritte eingeübt war, nun jedoch ohne vorherige Probe über die Bühne ging und durch das Einvernehmen von Mutter und Tochter, Aufmerksamkeit und die stille Sprache von Blicken glückte. Zum nuancierten Spiel des Klaviers las Laznia Passagen aus ihrem 2019 bei Müry Salzmann erschienen Buch „Lavendellied“, einem lyrischen Gesang in 14 Strophen, komponiert mit Worten, die während des Vortrags zu schwingen und zu klingen begannen. Mit dem Satz „Die Zeit hat ein Fenster“ endete Laznias Lesung, für diesen Tag auch der Einsatz des Klaviers, und Moderator Udo Kawasser kommentierte beeindruckt: „Wenn die Poesie die Butter aufs Brot des Lebens ist, dann ist die Musik der Honig!“
© poesiegalerie
Anschließend legte Katrin Bernhardt Ausschnitte aus ihrem bei edition lex liszt 12 erschienenen Buch „Aufbrechen“ vor. Es sind Gedichte, die Aspekte des titelgebenden Begriffs beleuchten und zum Teil auch politische Verwerfungen in den Blick rücken. Helmut Neundlinger folgte mit der Lesung aus seinem Buch „Virusalem. Gesänge aus dem Bauch des Wals“, das soeben beim Verlag Müry Salzmann erschienen ist. Es ist ein lyrisches Protokoll, das während des Corona-Lockdowns entstanden ist und der Ausweglosigkeit der Zumutung zwischen „gehst du raus, verlierst du alles / bleibst du drin, gewinnst du nichts“ mit Sprache poetisch beizukommen versucht. Christa Nebenführ wiederum präsentierte Texte aus dem ihr vom Podium-Literaturkreis gewidmeten Porträtband Nr.106. Er enthält 49 Gedichte, die sich variantenreich und zuweilen mit Humor den Höhen und Tiefen der Liebe und den Zumutungen des Alterns widmen.
Der vierte Lesungsblock startete mit Peter Marius Huemer, der sein in diesem Jahr beim Verlag Sisyphus erschienenes Buch „Uneinklang“ präsentierte und von „erste[n] Gedanken“, Tagträumen als „Gewinn aus Gold und Faust“ und, „jetzt wird es ein wenig abstrakter“ (meinte der Autor), zu „wunderbare[n] Zeiten“ changierte. Anschließend präsentierte Klaus Haberl, von den allmählich sich lichtenden Sitzplätzen sichtlich ein wenig irritiert, seinen in der edition lex liszt 12 erschienenen Lyrikband „Erdengemälde mit mir“. Es sind poetische Betrachtungen und Erkundungen, die persönliches Erleben einschließen, etwa im Gedicht „crowd“ Eindrücke einer gleichnamigen Tanzaufführung bei den Wiener Festwochen 2018 oder „Die Glut eines Grußes“ verdichten. Nikolaus Scheibner wiederum präsentierte ein Potpourri aus seinen Büchern „Die Badewanne als Kriegsgerät“ (edition art science, Lyrik der Gegenwart Band 69), „So viel Luft wie ich“ (dfw 2012: wohnzimmers buntes lyrikheft nr.1) und „aktuellen Sachen“. Es sind Exkurse ins Politische, auch ins Komische, zuweilen mit leicht ironisch-sarkastischem Unterton, etwa wenn er mit seinem nikolausigen Vornamen spielt oder fordert: „Der Dichter möge jetzt aus der Wanne steigen“.
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Im fünften und letzten Leseblock las der Dichter, Germanist und Übersetzer aus dem Chinesischen Martin Winter englischsprachige Gedichte aus seinem 2020 in der Edition fabrik.transit publizierten Band „Censored. 10 poems“. Es sind Texte, die aus einem demnächst erscheinenden chinesischen Gedichtband herauszensuriert wurden. Winter gab seinem Erstaunen Ausdruck, dass Gedichte, von denen er erwartet hätte, sie würden zensuriert werden, ohne Weiteres im Band verbleiben konnten, während vergleichsweise harmlose Gedichte wie ein Gedicht über den Brexit der Zensur zum Opfer fielen. Eindrücklich war zudem für die Anwesenden, dass er ein Gedicht in chinesischer Sprache vortrug, pure Lautpoesie für der Sprache nicht Kundige.
Letzte Vortragende des zweiten Poesiegalerieabends war Christiane Heidrich. Sie las aus ihrem Debütband „Spliss“, der 2018 im deutschen Verlag kookbooks erschienen ist. Es ist ein Band, der Fragen nach dem Körper und seinen Teilen nachspürt …
… doch spätestens jetzt wurde klar, dass man nach diesem langen, sehr intensiven Abend definitiv noch mehr Zeit und ein Äutzerl weniger Müdigkeit bräuchte, um sich diesem Buch und dem eindrücklichen Fluss der Sprache von Christiane Heidrich angemessen(er) widmen zu können. Als Abschluss für alle, die bis dahin im Publikum ausgeharrt hatten, winkte wieder das Glück bei der Buchverlosung, die manchem ein Geschenk in die Hände spielte, mit dem er zufrieden den Raum verlassen konnte.
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Fazit:
Auch der zweite Tag der Poesiegalerie erwies sich als reich und erfüllend. Bemerkenswert, dass eine literarische Veranstaltung wie diese auch in Pandemiezeiten durchgeführt werden kann. Die Disziplin des Publikums war bemerkenswert, kein Murren über die strenge Masken- und Registrierungspflicht und die verlangte Desinfektion der Hände. Der Mindestabstand wurde sorgsam eingehalten, kaum jemand verrückte die Stühle von den gekennzeichneten Plätzen. Erwähnenswert zudem, dass eine Veranstaltung dieser Länge ohne einen einzigen Huster erlebt werden kann! Dass nach jeder Lesung ausgiebig gelüftet wurde und sich somit längere Abstände zwischen den einzelnen Lesungen ergaben, öffnete die Möglichkeit eines anderen, neuen kulturellen Erlebens. Denn nun blieb Zeit, die gerade gehörten Texte noch ein wenig nachschwingen zu lassen und sich in Ruhe auf die nächsten Lesenden einzustellen. Und es blieb mehr Zeit, zwischendurch miteinander ins Gespräch zu kommen oder am Büchertisch in den Lyrikbänden zu schmökern und das eine oder andere Werk auch gleich zu erstehen.