Monika Vasik über Barbara Hundeggers neuen Gedichtband [anich.atmosphären.atlas]
Die Tiroler Dichterin Barbara Hundegger stellt das außergewöhnliche Leben des Peter Anich in den Mittelpunkt ihres neuen Lyrikbandes, eines Autodidakten, nach dem u.a. mehrere Straßen in Innsbruck, Graz und Wien, eine Bergspitze in den Ötztaler Alpen und ein Sonnenobservatorium in Südtirol benannt sind. Über Anichs vielseitiges Schaffen heißt es gleich zu Beginn des Buchs:
anich: unglaublicher meister der mechanischen künste | gesegnet mit der nötigen kunst-fertigkeit | schatz so vieler gaben: drechsler gestirne-kenner kometen-sucher sonnenuhren-erbauer feldmesser kupferstecher kartograf | stern 1. rangs hieß es: wunder seiner zeit
1723 wird er in Oberperfuss als einziger Sohn unter vier Kindern in eine Kleinhäuslerfamilie geboren. Der Vater ist Bauer, arbeitet als Köhler und lehrt ihn das Drechseln. Ob Peter jemals eine Schule besuchte, ist ungewiss, „die quellenlage: karg“.
vermutlich vom ... ortspfarrer wird dir grundwissen im lesen schreiben rechnen beigebracht
© Haymon
Raubbau an Körper und Kräften
Es ist ein Leben voll „erdrückender Pflichten“, das von althergebrachten Sitten und Gebräuchen bestimmt wird und von dem, was einem zustößt, nicht von dem, was man für sich plant. Als der Vater stirbt, übernimmt Peter 19-jährig gemeinsam mit seiner Schwester Lucia den Bauernhof. Seine große Liebe jedoch gilt dem Himmel, den er als Bub bereits eingehend betrachtet, wenn er das Vieh hütet. Bald bastelt er erste Sonnenuhren – ein früher Beleg seiner Arbeit ist eine Sonnenuhr mit der Jahreszahl 1745, da war er 22 Jahre alt. Sechs Jahre später beginnt er neben seinem anstrengenden Tagwerk beim Innbrucker Universitätsprofessor Pater Ignaz von Weinhart, von Hundegger „pater professor“ genannt, mit dem Unterricht in Mathematik, Feldmesskunde und Astronomie. Über drei Jahre geht er jeden Sonn- und Feiertag zu Fuß nach Innsbruck, ein Marsch von 2×3 Stunden, nimmt „etwas geistiges mit dem eigenen körper auf sich“, denn er schleppt Bücher hin und her, seinen „schatz“, müht sich dann nachts, wenn die andern schlafen, mit dem Lernen ab. Es ist ein Raubbau an Körper und Kräften, der seinen Tribut fordern wird. Bald beginnt er, Landkarten zu zeichnen.
zweifellos eine der ersten arbeiten müsst’ eine kleine karte der gegend von innsbruck gewesen sein: auf ihr alles | selbst wirtshäuser u. bauern- höfe | aufs genaueste angezeigt | die ganze kartenverfassung von solcher sorgfalt akribie vortrefflichkeit: dass es wenig ihresgleichen gegeben hätt’
„pater professor“ ist begeistert von seinen Fähigkeiten und seiner Auffassungsgabe. Er beauftragt ihn, einen Himmelsglobus für das physikalische Kabinett der Universität Innsbruck zu bauen, den er 1756 fertigstellt. „du / darfst mit deinen sternen beginnen“, es wird ein Opus magnum in mehrfacher Hinsicht, denn als der Globus fertig ist, ist er zu groß, um aus seiner Stube gebracht zu werden.
... das hatte niemand bedacht: zu enge tür | und das haustor: auch | zu großer durchmesser | etwas muss weichen: man bricht mauer- teile und pfosten aus deinem hof heraus
Atlas Tyrolensis
Im Auszug aus dem Tirol-Lexikon von Gertrud Pfaundler-Spat am Ende des Buchs erfährt man weitere biografische Details, etwa dass Anich 1757 die Konzession zur Herstellung und zum Verkauf von kleinen Globen, Taschen-Sonnenuhren – eine ist im Buch abgebildet – und mathematischen Instrumenten erhielt und 1759 einen Erdglobus herstellte. Danach bekam er den Auftrag, eine Karte des südlichen Tirols (heutiges Trentino) zu vollenden, die 1762 erschien. Gleichzeitig begann er, das nördliche Tirol (umfasste das heutige Nord-, Ost- und Südtirol) zu vermessen. Drei Jahre lang arbeitete er mit seinem Gehilfen Blasius Hueber (1735-1814) bei Wind und Wetter mit neuen und aufwendigen Messmethoden an seinem Atlas Tyrolensis und fertigte nicht nur die mit reichhaltigen topografischen Einzelheiten genaueste Landkarte an, die es damals in Europa gab, sondern führte auch über 50 eigene Signaturen ein „für mautstation / wirtshaus einzelhof für groß zerstreutes mittel- / groß zerstreutes großes mittleres kleines dorf …“ Hundegger gelingt es eindrücklich, die Strapazen dieses Unternehmens poetisch nachzuzeichnen, die über seine Kräfte gehen.
der einsatz: dein körper | er geht unter 1000 luft- linien die nichts wiegen: zu bruch
Das Firmament als Trost
Er wird taub, sein geschundener Körper von Krankheiten geplagt, „an konstitution: da fehlte alles“. Später heißt es, „dass dir jede kraft fehlt / deine verletztheiten zu verbergen“. Er wird zum Getriebenen, hält sich aufrecht durch einen einzigen Gedanken: „du darfst nicht fallen“. Sein verlässlicher Trost: der Blick zum Firmament.
nur über dir: dein haus der sterne bleibt immer das höchste | sie stehen als lichtinseln über den baumkronen: fixpunkte und sie beruhigen dich
Als er auftragsgemäß beginnt, Teile des südlichen Tirols neu zu vermessen, erkrankt er neuerlich und stirbt 1766. Anich hat den Druck seines Atlas Tyrolensis, der zu den bedeutendsten kartografischen Leistungen des 18. Jahrhunderts zählt, 1774 in 20 Blättern erschien und für den er weit über die Landesgrenzen bekannt wurde, nicht mehr erlebt. Einen Eindruck seiner Leistung vermittelt jener Ausschnitt aus dem Atlas, der, in zartgrünem Ton gehalten, auf dem Buchumschlag abgebildet ist.
Hundeggers politische Kritik
Barbara Hundegger erzählt aber in ihrem biografischen Langgedicht nicht nur von Stationen in Anichs Leben, in denen sie ihn meist direkt mit „du“ anspricht, manchmal den Fluss des Erzählten kommentierend oder mit Listengedichten unterbricht, etwa der Aufzählung von Seen und Almen, Wallfahrtsorten oder technischem Arbeitsgerät des Kartografen, sondern bettet diese nüchtern in ein Gesellschaftsporträt seiner Zeit. Es ist eine politische Kritik, die bis in unsere Tage weist. Da sind zum einen die Stellungnahmen der Feministin Hundegger. Mit dem Wort „obacht:“ unterbricht sie den Fluss des Erzählten mehrfach und weist darauf hin, dass stets auch Frauen Teil historischer Prozesse waren, was von der Geschichtswissenschaft meist unerwähnt bleibt. Oder sie beleuchtet die Position von Anichs Schwester Lucia, die sich fügt, ihm „der gute engel“ wird, Haus und Hof führt, seine Gebrechen mit ihm aussteht, aber lieber „auch einmal ein eigenes leben gehabt“ hätte. Zum anderen zeigt sie mit Anich einen Menschen, der sich mit großem Einsatz durch Bildung aus der Vorsehung und damit seiner Klasse löst und dabei auf ausdauernden Widerstand stößt. Die Meinung der Dorfbewohner über den Abweichler ist einhellig:
spintisierer sonderling weichling: sagen die leute | hat marotten | normal ist der nicht
Anich, der am liebsten in den Bergen weilt und Sterne betrachtet, der jeden See Tirols kennt, jede Bergspitze selbst gesehen und bestiegen hat, dieser Anich beherrscht die Umgangsformen einer Obrigkeit von Klerus und Adel nicht, die Land, Geld und Macht besitzt. Die Herrschaft benutzt ihn, nützt seine Fähigkeiten aus, versucht ihn zu lenken und zu nötigen, die Maßstäbe seiner Karten nachträglich zu ändern, bezahlt ihm aber für seine Arbeit nur einen Bettel. So wird Hundeggers Buch auch zum politischen Plädoyer für eine egalitäre Gesellschaft, in der Chancen nicht von der Zugehörigkeit zu einer Klasse abhängen, gute Bildung und Lebensgestaltungsmöglichkeiten nicht selbstverständliches Erbe bloß für wenige sind, sondern allen Menschen offen stehen. Ihr gelingt ein beeindruckendes und poetisch überzeugendes Buch, das im März 2020 zudem mit der Aufnahme in die Liste der Lyrikempfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung als einer der zehn besten deutschsprachigen Lyrikbände des letzten Jahres ausgezeichnet wurde.
Barbara Hundegger: [anich.atmosphären.atlas]. Gedichte. Haymon Verlag, Innsbruck-Wien. 2019. 208 Seiten.