Christian Steinbacher übersetzt Michèle Métail
Michael Hammerschmid über den Gedichtband Phantome Phantome in der Edition Korrespondenzen
Blättert man Phantome Phantome auf, begegnet einem an erster Stelle eine kurze kultur- und werkgeschichtliche Skizze Michèle Métails zur Poetik des Bandes und den in acht Zyklen auftretenden sprachlichen Phantom-Bildern oder eben schlichter „Phantomen“. Mithin handelt es sich um geisterhafte Erscheinungen, die jedoch charakterisierend eingesetzt werden, so wie die Phantombilder in der Kriminologie, die Michèle Métail auch in ihrem Vorwort erwähnt. Jedes dieser Phantombilder, Suchbilder besteht aus zehn kurzen Zeilen und trägt einen eigenen Titel. Den immer wieder Orten zugewiesenen Zyklustiteln entsprechend, finden wir das dazugehörige Personal in Gestalt der jeweiligen Zehnzeiler: Beispielsweise im Zyklus „LES MARSEILLAIS; PEUCHÈRE!“ (in etwa DIE MARSEILLER; ÄRMSTE!“), den Straßenmusiker („LE MUSICIEN DES RUES“), den Dockarbeiter („LE DOCKER“) oder den Fremden („L’ESTRANGER“) und in diesem Zyklus insgesamt 13 solcher Phantom-Bilder. Andere Zyklen heißen „LE TOUT-PARIS“, in etwa der „Das/Der Ganz-Paris/er“ oder „ICH BIN EIN BERLINER“ (bei Métail auf Deutsch), „GENS D’EDENKOBEN“ (Leute aus Edenkoben) oder „PROFIL GREC“ (Griechisches Profil). Es ergeben sich also nicht nur Phantombilder einzelner Figuren, sondern auch kultureller Figurationen der jeweiligen Orte.
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Gesucht – Die Matrix der Sprache
Was kriminologische Phantombilder charakterisiert, ist nicht zuletzt ihr Ungefähr bei gleichzeitigem Bemühen um größtmögliche Genauigkeit, da sie die Gesuchten meist nur von Beschreibungen her kennen. Hiervon unterscheiden sich die Phantom-Bilder der Michèle Métail insofern, als es sich bei ihnen um ein anderes Ungefähr handelt, mit dem sie arbeiten. Es ergibt sich aus dem Sprachmaterial, von dem die Autorin folgendes berichtet: „Die Beschreibung der Figuren in einer Portraitgalerie beruht auf einem einfachen Konzept: der Anordnung von Kollokationen, diesen in Wörterbüchern geordneten festen Wortpaaren, ohne zusätzliches Verbindungswort. Das Phantombild der Zwillinge zum Beispiel benützt verdoppelte Wörter wie von Mund zu Mund, Rücken an Rücken, Arm in Arm…“ (S. 14). Das Ungefähr rührt also aus dem Material, aus dem die Gedichte gearbeitet sind, aus den genauso vagen wie poetisch höchst suggestiven und vieldeutigen Sprachfügungen, die zum Wörtlichlesen anregen; die Sprache wird dabei von Michèle Métail nicht vorrangig denotativ, abbildend eingesetzt, sondern materialbezogen und vor allem zusammensetzend. Was gesucht wird, ist nicht so sehr die Wirklichkeit auf der Straße (wenngleich diese auf vermittelte Weise durchaus auch), sondern die Matrix der Sprache als eigener Wirklichkeit, wobei die beiden bekanntlich in unseren Köpfen ineinanderwirken und eins ohne das andere nicht zu denken ist. Die Autorin verweist im Vorwort auf die sie inspirierende Bildgenerierung Acrimboldos oder auch auf Nicolas de Larmessin, und man kann die Parallelen zu kombinatorischen Methoden in den Dadaismus, Surrealismus und andere – vor allem experimentelle – Künste weiterdenken.
Steinbachers „Aneignungen“
In diesem intensiven Interesse für Sprachmaterial, Sprachspiel und -konstruktion trifft sich Michèle Métail, ehemals auch Mitglied von OULIPO, mit dem Linzer Dichter Christian Steinbacher, der sich ihren Sprachfügungen mit Verve und ganz eigener Übertragungs-Methode annimmt, indem er jede einzelne der Métail’schen Kollokationen (s.o.) in seinen „Aneignungen“ genannten Übertragungen, aufsprengt, verändert, mit Verschiebungen, Ergänzungen, verschiedenen lautlich-semantischen Twists bearbeitet, ohne aber den Bedeutungsraum des jeweiligen Ausgangsmaterials je ganz zu verlassen. Sehen wir uns eine genauer an:
VIENNOISERIE 43. L’HOMME SANS QUALITÉS TÊTE FROIDE CHEVEUX DÉFAITS VISAGE PÂLE REGARD INEXPRESSIF TON NEUTRE VOIX MONOTONE COEUR À RIEN FOIE FATIGUÉ INTESTIN ATONE MAINS VIDES LIPIZZANEREI 7 Profilierunsgmuster ERGREIFT UND DENKT SICH: Mann, eigenschaftsfrei Kopf, bewahre! Kein Zopf, kein Dutt An den Wangen Kalk Im Visier kein Druck Melodie spielt auf sachlich Das Pressing fehlt Der Puls versteckt sich Die Innerei geht schlafen Was sich windet gar träge Leerlauf braucht keinen Griff (aus: Phantome Phantome, S. 64/65.)
Sprachliche Parallelporträts
Wir begegnen hier der ersten von sieben Figuren des „VIENNOISERIE“ überschriebenen Zyklus’, was im Französischen schlicht Feingebäck mit ersichtlicher Anspielung auf die Wiener Bäckerei-Tradition bedeutet. Christian Steinbacher interessiert sich für das Klischee, das auch im Wiener Gebäck steckt, und verschiebt es in ein anderes vom Tourismus weidlich ausgeschlachtetes Sujet, und verschiebt dieses selbst wiederum ein Stück weiter, nämlich „Lippizaner“ zu „LIPPIZANEREI“, dem Titel seines deutschen Parallel-Porträts. Charmant dabei, wie lautlich eine Nähe zwischen der französischen „(-oise)rie“ zur deutschen „(-zane)rei“ bestehen bleibt; womit man sich schon einen ersten Begriff seiner spielerischen Aneignungen machen kann. Wenn Christian Steinbacher in den Gedichten auch den Zeilenstil bei Métail strikt beibehält, gibt es, was den Metatext der Zehnzeiler betrifft, allerdings zwei signifikante Erweiterungen. Jeder Zyklustitel bekommt im Deutschen einen Untertitel und jedes Gedicht eine Zusatzzeile hinzugefügt. Wodurch jeweils eine bestimmte Perspektive und ein spezieller Gestus eingebracht wird. Im vorliegenden Fall wird die Viennoiserie bzw. Lippizanerei unter der Perspektive des „Profilierungsmusters“ aufgezäumt. Und der „Mann ohne Eigenschaften“ (L’HOMME SANS QUALITÉS) unter der Perspektive des Ergreifens und Denkens gleichsam gerahmt: Wesentlich dann vor allem, dass die berühmte Musil’sche Literaturfigur von Steinbacher aus dem Literarischen weggerückt und gleichsam entösterreichert und verallgemeinert auftritt, nämlich als „Mann, eigenschaftslos“.
Beschwörung der Sprachgeister
So wird also in der Aneignung gedeutet und umgedeutet und etwas Eigenes geschaffen, das dennoch am Wort-Material bleibt, worin man Steinbacher in seinem Element sieht. Im Verdrehen, Weiterdrehen, findigen Heraushören, Gegen Erwartbares und Sinn hören, Wenden, in Un-und Anderssinne hinein, die aus dem Ursprungsmaterial „parallelaktionsart(ist)ig“ verwandte, aber höchst eigenwillige Sprach/Gestalten schafft; gewissermaßen werden die Geister gerufen, die in der Sprache stecken, wenn man sie, wie eine Büchse der Pandora, öffnet. Wie man sieht, besteht jede Zeile bei Métail aus einem Substantiv und einem Adjektiv, jedenfalls aus einer Kollokation (s.o.). Aus „TÊTE FROIDE“, dem kalten, kühlen Kopf, wird bei Steinbacher dann „Kopf, bewahre!“, als wäre das vermutlich Abweisende der Kühle oder des so kalten Kopfes in dem „bewahre“ enthalten. Ein Sem, ein Bedeutungselement aus dem Fächer der Seme, wird also herausgelöst und in die Übertragung eingesetzt. Aus „VISAGE PÂLE“ wird „An den Wangen Kalk“, ein schönes, plastisches Bild, ein konkretes, eine Konkretisierung gleichsam des blassen Gesichts. Nimmt man das ganze Gedicht in den Blick, wird das streng und klar gebaute, feingliedrig surrende Roboter-Bild bei Métail (der erste Zyklus und das Buch mit den Phantomen heißt auf Französisch: Portraits-robots, auf Deutsch in etwa: Roboter-Porträts, Porträt-Roboter), verschrobener, vielfältig, formal, grammatikalisch, semantisch vielgesichtiger, vor allem aber verbaler, tätiger, gestischer. Womit nicht gesagt sein soll, dass die Métail’schen Figuren nicht ihre eigene Komplexität haben, die haben sie sehr wohl, aber sie folgen in der Machart einem reduzierten, strengeren Programm als in Christian Steinbachers Aneignung. Und der besondere Reiz der Übertragungen entsteht aus den lustvollen Abweichungen der Einzelzeilen wie auch der ineinander gespiegelten, aneinander veränderten Menschen- und Sprachporträts.
Ein kombinatorisches Fest
Alles in allem, lässt sich der Band als kombinatorisches Fest beschreiben, in dem sich Einblicke in die Sprachmechanik und semantische wie lautliche Bauart des Französischen und Deutschen gewinnen lassen und in dem ein kulturelles Alphabet an Figuren geschaffen wird, mit denen die eigenen Denk-, Sprach-, Sprech- und Wahrnehmungsmuster in höchst unorthodoxen Dialog treten können. Denn wie sieht er aus der „L’AGENT NEUTRE“ (Nr. 86) aus „HELVÉTISME“ oder „LE CITOYEN DE GENÈVE“, der Bürger von Genf, bzw. in Christian Steinbachers Aneignung „Genfer Bürger als Raufbold“? Oder wie der „Berggassendoktor“ bei Christian Steinbacher, „LE MÉDECIN DE LA BERGGASSE“? Die experimentelle Literatur hat sich immer schon für die Muster und Mechanik von Sprache und das Innenleben der Sprache als kulturell kodiertem Stoff interessiert, und das Duo Michèle Métail und Christian Steinbacher, die ihre Phantome am 19. Jänner 2021 beim Lyrik-Festival „Dichterloh“ in der Alten Schmiede in einer Performance vorstellen werden, sind, wie dieser Band eindrücklich zeigt, prädestiniert dazu, strenge Methode und Freiheitsdrang sowie Witz (im alten Sinn von geistreichen Einfall) und Ernst miteinander kurzzuschließen.
Michèle Métail / Christian Steinbacher: Phantome Phantome. Wien, Edition Korrespondenzen, 2020. 148 Seiten