Alexander Peer liest den Gedichtband Orte sind von Erika Wimmer Mazohl
Orte sind ist eine Klammer für sehr verschiedene Betrachtungen des Ortsbegriffs. Zunächst weisen die Kapitel dieses Bandes ganz unvereinbare Schwerpunkte auf. Innerlichkeit, Städteporträts, Onomatopoetische Vermessungen, Referenzen auf Trakl, ein Klagelied auf die drohende Apokalypse, gefolgt von einem Umkreisen des Schweigens, das doch so unbeeindruckt bleibt, und schließlich eine geographische Kräuterkunde. Dennoch lassen sich Querverbindungen herauslesen aus diesem Konvolut. Vom Tatort Körper bis zum Tatort Pflanze erstreckt sich die Bandbreite dieser Ortserkundungen. Das Buch beginnt mit buchstäblich selbstverständlichen Texten. Sie entschlüsseln Befindlichkeit graduell unterschiedlich irritierter Ichs und beschreiben Phänomene der Scham. Dass diese Gedichte mitunter getragen sind von einer klaren politischen Aufgabe, fällt gleich beim ersten auf.
Politisches Sprechen
„Me too“ erzählt von Übergriffigkeit. Spannend ist dabei die formale Eigenart des doppelten Enjambements, nicht nur der Sprung am Zeilenende dient zur rhythmischen Struktur. Wimmer arbeitet hier mit einer Zäsur innerhalb der Zeilen. Ich bin versucht, diesen harten Bruch einerseits als Bruch einer allzu leicht dahinplätschernden Melodie zu verstehen, die das Aufnehmen der Information en passant erlaubt. Gerade durch die Irritation, dass der Leseduktus gestört ist, wird das einzelne Bild aufdringlicher. Man muss sich ihm zuwenden. Gleichzeitig interpretiere ich das Stakkato als Vermittlung des Schocks, der bei dieser Gewalt ausgelöst wird, und der zugleich die Erinnerung erschwert, aber auch einfriert und detailreich bewahrt.
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Mit der populär gewordenen Formel „je suis“, um ein Bekenntnis für jemanden oder eine Sache zu deklarieren, arbeitet Wimmer in dem gleichlautenden Gedicht, um die Personalisierung der Dinge mit der Welt der Menschen zu verknüpfen. Am Ende jedes Miniaturmonologs wird ein neuer Erzähler benannt, der sogleich in der nächsten Strophe die Litanei fortsetzt. Eindeutig ist das zugrunde liegende Thema dieses Gedichts, die Leiden erzwungener Migration. Wenn die Härte sich ausspricht, sich gegen jegliches Mitgefühl wehrt und eben hart an der Panzerung arbeitet, denn fällt ihr gewissermaßen gleich die Angst ins Wort. Mit diesem Bilderstaffellauf entsteht ein Chor, der lautstark auf eine zentrale gegenwärtige Herausforderung der Zivilisation verweist.
Italien erfahren
“Ortserfahren” erweist sich Wimmer vor allem in Latium. Hier entstehen bilingual Stadtgeschichten. Es ist meist die Haptik, die die Gegenwart wortgetreu begreifbar macht. Sie wird in deutscher Sprache vermittelt. Als Gegenpol dient Italienisch, um Vergangenes zu benennen, vielleicht zu beschwören. Als Beispiel dafür sei ein Auszug aus “Tarquinia” zitiert:
weiß Totenstädte im Grünen / e il fascino degli Etruschi / die Kammern bemalt geschmückt / Sarkophagskulpturen aus Stein / geschaffen für die Reichsten im Stadtstaat / gestiftet von Aristokraten / fantasie di vita e di morte
Wo, wenn nicht in Latium lebt die Antike so gründlich in unseren Alltag hinein?
Orte sind aber auch Klangorte. Wimmer schafft gewissermaßen Registerkarten des Klangs für verschiedene historische Ereignisse. “klack dum” macht der Schlagbaum, während sich Hitler und Mussolini an der Grenze über die Zukunft Europas unterhalten. In “der klang des skalpells” heißt es:
und lautlos / das quellen / des bluts // unter schreienden / lichtern / dem knistern von / nerven.”
Es ist ein Moment der Entscheidung, den diese Klanggedichte festschreiben, der zwar stets auf ein konkretes Geschehen verweist, aber als universale Erfahrung wirkt.
Auf der Fährte Trakls
Etwas heraus aus dem Buch fällt die schweißtreibende Erkundung Indiens, nicht weil hier nicht ebenso ein Ort behandelt wird, sondern weil dieser Text am ehesten einem Prosastück entspricht, das sich gekonnt und sinnlich dem Treiben der Stadt und auch der Ausbeutung von Frauen widmet. Formal wieder poetischer wenden sich die sogenannten “Echoräume” Trakls Spuren zu, wandern über den Mirabellplatz in Salzburg hinauf zur Burg und landen schließlich in Hall in Tirol, wo der großzügige Ludwig von Ficker dem so haltlosen Georg Trakl zur Seite stand. Es ist eine Referenz, die Eigenes schöpft und dennoch – etwa in der Melodik oder der Wahl der Farbstimmungen – durchaus die literarische Fährte Trakls aufnimmt und nicht nur als biografische Suche fungiert. Mit einer Dichotomie von Standbein und Spielball schafft Wimmer ein starkes Bild, das durch die Texte mäandert, um die schlotternde Existenz des früh Verstorbenen klar zu schildern.
Klimawandel und Schweigen
Wie sehr der Klimawandel und die Verwüstungen, die aufgrund des globalen Temperaturanstiegs geduldig auf uns warten, zu einem Thema der Lyrik wird, zeigen viele Texte. So einprägsam wie in Wimmers Klagelied über die Elemente “wind wasser feuer erde” ist die Stimme drohenden Untergangs selten. Fast harmlos klingt ein Wort wie Naturgewalt, wenn es darum geht die gravierenden Dürren, Fluten oder Feuersbrünste zu beschreiben, die mit dem Wandel einhergehen mögen. Auch hier vergisst Wimmer nicht, das Leid der Menschen zu vermitteln, die unversorgt und letztlich unversöhnt zurückbleiben. In den “Szenarien des Schweigens” scheint mir manchmal etwas an der Kraft des Einfalls verloren zu gehen. Dies geschieht durch Aufzählungen, die nicht stärker ein Phänomen zu fassen suchen, sondern sich verlieren und die Lust am Lesen rauben. Dann aber leuchtet ein Bild wie dieses über das Schweigen auf:
ich weiß seinen Ort immer dann / wenn / ein Buch mir die Sprache verschlägt
Es ist klar, dass dieses erschöpfende Gebet dem großen Schweigen gewidmet ist. Aber das Buch endet nicht damit, sondern mit einem Herbarium, das wiederum eine Weltreise birgt. Dabei ist die Flora oft ein Tatort der Fortpflanzung und des Verderbens, wenn es vom Guajavebaum in Hawaii heißt:
“ein spinnenschnabel gezückt / saugt den kolibri aus.”
Also am Ende doch Schweigen. Wie könnte es auch anders sein.
Erika Wimmer Mazohl: Orte sind, Edition Laurin, Innsbruck, 2019. 128 Seiten. Euro 17,90