Helmut Neundlinger über Sabine Grubers Gedicht Wenn er wegbricht in meinem Inneren
Wenn er wegbricht in meinem Inneren, Wenn er zersplittert, mich mit jedem Teilchen Durchbohrt, wenn er in mir zerfließt, mich Überschwemmt, wenn er lodert und mich Verbrennt, was bin ich dann noch? Was Ohne sein Knie, ohne den haarlosen, weichen Nacken, die helle Händehaut, ohne das Augen Blau? Dort grüßt ein Mann und geht, ein Anderer schreibt und lacht, ein dritter Fleht: Folge mir. Ich mache das Holz für Deinen Winter. Die Quitten sind jetzt stumm, Der Specht hängt am Meisenring. Ich weiß, Die Zeit ist dünn. Wir fetten unsere Tage auf Mit Hirschkälbern und gestopften Gänsen Mit Schokokeksen und Weihnachtskränzen. Ein Vierter sitzt und schweigt, ein Fünfter Zeigt, daß er bleibt, doch er bestellt, was er Für Vergnügen hält: Wein, Weib und laute Weisen. Wenn er wegbricht in meinem Inneren, Wenn er zersplittert, mich mit jedem Teilchen Durchbohrt, wenn er in mir zerfließt, mich Überschwemmt, wenn er lodert und mich Verbrennt, was bin ich dann noch? Was Ohne seine Stimme, sein dunkles, abruptes Lachen, ohne seine Kosenamen, seinen breiten Mund? Dort ist die Frau. Wo sie liegt, ist Nichts mehr. Wo sie wartet sind alle schon Gegangen. Wo sie überlebt, sind die Herz Schläge abgezählt. Es ist höchste Zeit. Der Himmel hängt tief. Die Quitten sind Geschnitten. Der Specht ist weggeflogen. So nah kommt mir kein Morgen mehr, Kein Rosalicht. Die Frau in mir ist fort, An einem anderen Ort, sie sammelt Ewigkeiten, schnelle Blicke. Stille Sätze
Sabine Grubers Gedicht bildet den Auftakt zu 15 weiteren, die unter dem Titel Am Abgrund und im Himmel zuhause 2018 erschienen sind. Gruber setzt sich in diesem Zyklus mit dem Verlust ihres Lebensgefährten, des bildenden Künstlers Karl-Heinz Ströhle, auseinander, der im August 2016 bei einer Wanderung in Vorarlberg plötzlich verstarb. Das Gedicht setzt mit der Feststellung der inneren Dimension des Verlustes ein. Das „Wenn“ suggeriert einen noch unabgeschlossenen Prozess, der sich zwar nicht aufhalten lässt, gegen den das Ich jedoch Einspruch erhebt, nur um die Schleuse daraufhin endgültig und umso drastischer zu öffnen. Der Verlust des Anderen wird in gewalttätigen Bildern beschrieben. Zersplittern, durchbohren, überschwemmen, verbrennen: Es sind nicht nur die beschriebenen Vorgänge, die den Beginn dieses Gedichtes so schmerzhaft machen, sondern die Tatsache, dass das Ich sie gleichsam gegen den eigenen Körper richtet. Das Zersplittern des Anderen findet seine unmittelbare Wirkung im durchbohrten, überschwemmten und verbrannten Ich und mündet in der konsequenten Frage: „was bin ich dann noch?“ Die Antwort auf diese Frage ist wiederum eine Frage, die den Anderen in seiner Unversehrtheit, seiner einzigartigen Körperlichkeit noch einmal aus der Erinnerung zurückholt. Obgleich nur als Splitter erscheinend, setzen sich die Körperbilder wie von selbst zu einem Ganzen zusammen, jenem Gemisch, das den Anderen in seiner allumfassenden Gestalt wahrnehmbar macht.
Ausgedünnte Zeit
Der unvermittelte Wechsel, der im Gedicht auf das „Augen / Blau“ des anderen folgt, schreibt sich in den unüberwindlichen Spalt zwischen dem Ich und dem Anderen ein: Eine Reihe von Männern taucht auf, weit entfernt und zugleich unerträglich nah. Werben sie um die Verlassene, sucht sie bei ihnen Trost? In der raschen Folge der Aufzählung fließen sie zu einer im Grunde trost-losen Gestalt zusammen — einerseits bemüht, andererseits hilflos und zuweilen Grenzen überschreitend mit ihrer schieren Anwesenheit. Auch die Natur scheint von der Trauer angegriffen, „stumm“ wie die Quitten, ausge-dünn-t wie die Zeit, wenn das Jahr sich dem Ende zuneigt. Die Einsamkeit überlagert alles.
Der Verlust des Anderen als Selbstverlust
Die Autorin hebt in der zweiten Strophe des Gedichts neuerlich mit denselben drastischen Worten an, wie um sich dem Schmerz ein zweites Mal auszusetzen, um ihn vielleicht auf diese Weise zu überwinden. Und wieder folgen Erinnerungen an ihn, den Anderen, die ihn noch einmal in seiner warmen Präsenz lebendig machen. Gleichfalls wie ein Echo auf den Schlussteil der ersten Strophe mutet an, was dann kommt: Die Männer sind verschwunden, die Frau mit sich allein, in ihrem Warten gefangen, dem eigenen Überleben nicht mehr trauend, zurückgeblieben in einer vollkommen kahlen, leblosen Natur. In der Schlusspassage formuliert das Ich den Selbstverlust, den ein solcher Prozess mit sich bringt: „Die Frau in mir ist fort“, als Geliebte, als vom/von anderen begehrtes Wesen, das in einer merkwürdigen Spannung verharrt: „sie sammelt Ewigkeiten, schnelle Blicke“, heißt es, zwei einander schroff widersprechende Güter, die dennoch gleichzeitig diesen Zustand bestimmen. Wieder zu sich scheint das Ich erst in dem zu kommen, was durch einen markanten Punkt von den Ewigkeiten und schnellen Blicken abgesetzt ist: „Stille / Sätze“ sammelt die Frau zuletzt, und in diesen vollzieht sich womöglich eine Art von Wiedereintritt ins eigene Leben.
Sabine Gruber: „Wenn er wegbricht in meinem Inneren“ aus: Am Abgrund und im Himmel zuhause. Gedichte. Haymon Verlag, Innsbruck 2018. S.3/4