E. A. Richter
ELTERNUNIVERSUM 1 manchmal wünsche ich mir das Kind zurück, das ich war in manchen Situationen – im Bachbett inmitten von Schachtelhalmen, auf der Sperre balancierend, mich in den Lehmabhang hinein- grabend inmitten gleichaltriger Buben, immer tiefer als Lehmbedeckte, mit Sträußen Überhäufte, im Mai mit Maiglöckchen oder auch nur mit ausgerissenen Grasbüscheln von oben, wir alle in unserem Grasbett, bald Heu, bald in der Mäulern der Kühe, die wir selbst waren oder der zusammengestoppelte geduldige Ochse, der jetzt meine Erinnerungspartikel verleimen wird, unser Tischlerochse, dessen Hoden ganz hoch hingen, damit er nicht davon träumen konnte 2 mein heutiger Traum – weit weg von diesem Kind, das so oft mit der Hacke im Wald war, sich in den Schenkel hackte, ins Knie, als wäre er aus Holz, in den Fuß, damit er sich in viele nebeneinander gehende Extremitäten verwandelte, auch in die dunklen Geistergestalten, die ihm daraus erwuchsen, als hätte er selbst deren Geburt angestoßen, indem er das Blut aus seinen Wunden nicht für irgendeine Zukunft vergeudete, seine schwierige Erlösung - nur dem Heil zuliebe all jener, die er war und noch werden wollte 3 verwirrend der Nachgeschmack nach dem Erwachen, diesmal nur Dellen auf den Füßen, Einkerbungen an den Schienbeinen, felliger Haarwuchs auf den Schenkeln, Brutgeruch aus den tropfenden Jahresringen, die den umgaben, der mit diesigen Körperdetails mich zu simulieren versuchte. Hautsimulator, glatt und völlig ungefleckt, Ausscheidungen einer Schlange zwischen den Zähnen, Zungenmahlzeit, als hätte ich Krebs im Gaumen, als steckte ein Blutschwamm im Hals, und alles, was von überallher gesprochen wurde, kam da nicht mehr heraus. Allerdings die Ohren, in denen es einigermaßen verständlich dröhnte. Und ein Weinen, Schmerzgeschrei; und ein Fieber, das alles schillernd machte, auch als ich unten an der Mauer entlang zur Decke geklettert war, auf den offenen Ofenschacht hinabsah, in dem Sägescharten und Knochenmehl das Licht dieser Fiebernacht regulierten - ich als Kind, das schon in einer Zukunft steckte, von der es erst wissen würde, wenn es mit wissbegierigen Buchstaben zu schreiben begann 4 das Kind, das ich einmal war, lag oft im ungemähten haushohen Gras, fühlte sich geschützt, trug einen anderen Namen. Wer auch immer rief, ich meldete mich nicht, holte die Wolken heran, molk sie, ließ mich von ihren Schweifen streicheln, auch traktieren, sodass ich voller Striemen aufstand, um sie mit Kalk aus der Kalkgrube zu löschen. Auf einmal steckte ich ganz tief unten in der Grube als unnatürlich Weißer, der von niemandem in der Familie erkannt werden kann. Ich würde mich nicht mehr in den Kirschbäumen verbergen müssen oder auf den Dachböden, keine kitschigen Selbstbefreiungsphantasien mir ausmalen, in denen ich zum hundertsten Mal die Ketten, die mich fesselten, zerriss, als wäre ich der Adler auf dem Wappen, auch mit Hammer und Sichel ausgestattet und zumindest ebensolch scharfen Augen 5 in meinem Elternuniversum bin ich selbst Vater und Mutter. Es wimmelt von höchst unter- schiedlichen Kindern, alle herbeigeströmt aus all den Orten, wo ich jemals gewesen bin, auch jenen nur in der Phantasie betretenen. Ich bleibe froh und gelassen, setze mich hin, lauschend (Unveröffentlicht. Montag, 2. November 2020, 1.30 Uhr)
Zuletzt erschien von E. A. Richter: An Lois. Gedichte. Edition Korrespondenzen, Wien 2019. 112 Seiten. Euro 18,-