Lisa Spalt über den neuen Gedichtband von Wjatscheslaw Kuprijanow, der am 12.1. beim Lyrikfestival Dichterloh liest.
POESIEGALERIE in Kooperation mit der ALTEN SCHMIEDE.
Vielleicht lässt sich ein besonderer Sinn, den ich Kuprijanow zuschreiben möchte, anhand seines Prosagedichts Das Wurstwunder erklären. Ein Mann glaubt, eine ihm passende Wurst gefunden zu haben, kaut an ihr, um seinen Hunger zu stillen, kaut weiter, um auf Vorrat zu essen, stellt fest, dass die Wurst aus dem Hintern eines anderen kommt und – wohl, weil vorverdaut – leicht zu kauen ist, stellt fest, dass aus seinem Hintern wiederum und so weiter. Der Endlos-Vorgang führt zu einer Überhitzung des Konsumierenden, die durch ein von (n)irgendwem getätigtes ständiges Rotieren gelindert wird.
Da läuft etwas heiß
Nur ein bestimmter Teil seines Körpers läuft heiß. Dieses Gedicht nun ist selbst eine Art Wursthaut von Begriff. Es ist eine Form, die man begreifen kann, wenn es auch etwas peinlich scheint, daran zu rühren. Es ist eine Gestalt, in der Füllbares und Fühlbares auftreten. Geht es hier darum, dass wir allein nicht existieren, dass wir von Anfang an die Wurst (die Scheiße) der anderen aufnehmen und verdauen? Geht es um die sozialen Netzwerke, in denen man zuweilen eine nährende Wurst gefunden zu haben glaubt, die aber eigentlich oft eine ziemlich ungustiöse, vorgekaute, vorverdaute ist, die man schnell runterfrisst und weiterverdaut, um sie in die nächsten Münder hineinzuposten, sie dort mit dem Po zu positionieren, worauf die lieben Nächsten das Konsumierte gleich wieder über ihre Därme weitergeben? Geht es um übermäßiges Schlucken, das die Wirtschaft am Laufen hält, das aber letztlich ein unappetitliches Wiederkäuen von Dauer-Ausgeschiedenem ist, das kaum mehr geschluckt werden kann? Und was für ein sexuell gefärbter Vorgang ist das eigentlich, bei dem eine Person am Hintern der anderen hängt, sodass es zu einer Überhitzung kommt und das Geschlecht gegrillt wird, das sich dann als die frisch hergestellte „passende Wurst“ selbst herausstellt?
Arme Würste
Es ist kaum übersehbar: Wir mit unseren fehlgeleiteten Bedürfnissen sind selbst die Wurst, an der wir kauen. Wir sind selbst der Konsum, um den es hier in einer für so vieles passenden Form geht. Arme Würste, wir! Die Gier nach der Wurst, nach dem Genuss unserer selbst, das omnipotente, libidinös besetzte Konsumobjekt, das Objekt der Begierde, das doch ein Mensch ist – der Konsum verbindet uns auf eine eklige Weise und führt zu Überhitzungen, die genau nur dadurch gelindert werden können, dass wir weiter um die Wurst herumrotieren. Ja, im Paradies von Herrn Gott hätte man von Luft und Liebe leben können. Aber die Schlange brachte uns auf die Idee, zu konsumieren, auf die Idee, zu essen ohne Notwendigkeit. Und so kam, wie Sie wissen, die Erbschuld in die Welt – durch die Natur, welche die Schlange ist. Können wir anders? Selbst die Erkenntnis hat mit dem Verschlingen zu tun. Auch sie kam durch das Begreifen und Einverleiben des Apfels in unseren Körper. Der Anblick der Schlange, dieser Wurst, triggerte den Appetit der Menschen, und sie aßen das sehr schlaue Tier, also den Wurm im Apfel, um sich dessen Klugheit anzueignen. Wieso sonst hätte Gott die Intelligenz in seinem Buch extra erwähnt? Gegessen muss werden, und zwar weil Gott gelogen hat. Am Konsum des Apfels sind Adam und Eva nicht gestorben, wie angedroht. Der ertappte Gott bestraft die Erleuchteten. Und die Strafe ist eine, die immer wieder runterzuwürgen ist.
Vögel und Fische
Deutlich wird das bei Kuprijanow unter anderem in dem Gedicht mit dem Titel Das Geheimnis der Geige. Während in Ilse Aichingers Geschichte Der Gefesselte die Fesselung, mit der der Künstler geboren wird, gerade dazu führt, dass jede seiner Bewegungen kunstvoll ist und daher im Zirkus zur Unterhaltung und zum Unterhalt werden kann, wird in Kuprijanows Gedicht eine Unvereinbarkeit zelebriert, die sich gewaschen hat. Hier muss ein Geiger für zwei Publikumsschichten spielen, für Vögel genauso wie für Fische. Um dies aber zu ermöglichen, schwimmt er beim Spielen (und ja, das Schwimmen hat im Russischen wahrscheinlich nicht diese zweite Bedeutung, aber: Der Mann schwimmt, er eiert herum). Will dieser Musiker also für die Vögel spielen, die bekanntlich selbst Sänger und wahrscheinlich musikalisch kompetent sind, muss er erst das Wasser aus der Geige schütten und kommt nie dazu zu brillieren. Will er für die stummen Fische aufgeigen, wünscht er sich, Cellist zu sein, denn ein Cello würde besser schwimmen als die Violine. Der Kunstberuf ist zum Sichern des Überlebens wieder einmal nicht so recht geeignet und mit Kunst hat das Überleben des armen Schluckers auch wenig zu tun. Am Ende sind die beiden Tätigkeiten – das Schwimmen und das Geigen – so unvereinbar, wie sie dasselbe sind.
Was tun mit dieser Welt, in der es sich spießt?
Geige Spielen ist irgendwie Schwimmen, aber gleichzeitig sind die beiden Tätigkeiten auch Gegensätze, die sich im Menschen, der sich in sie zerreißt, synthetisieren. Ist aber nicht das, was so wie die Kunst als das Göttliche empfunden wird, oft gerade so unauflösbar wie die Dreifaltigkeit? Was auflösbar ist, erscheint nicht göttlich, nicht ewig, es zersetzt sich leicht. Kuprijanow schreibt eine Welt, in der sich vieles göttlich spießt, in der vieles göttlich miteinander verschmolzen ist. Und er findet darin durch einen speziellen Sinn für das Unauflösbare, für den Wahn, eine eigene Freiheit, zum Beispiel in Bezug auf die Dialektik, deren Erfindern er zum Gedächtnis keine Freiheitsstatue aufstellen möchte, da sie sich, um frei denken zu können, von Dutzenden Sklaven betüdeln lassen mussten. Ja, da sind sie wieder, die Unvereinbarkeiten. Was tun mit dieser Welt, in der so gar nichts zusammengehen will? Kuprijanow lässt erlösend beispielsweise durch eine – dem Wahnsinn der Welt wie dem Unsinn menschlicher Kategorien adäquate – Betrachtung von Zeit so etwas wie einen rissigen Zusammenhang entstehen, einen, der den Riss zwiefach aufhebt, also sowohl konserviert als auch bannt, einen, der gleichzeitig die rührende Seite des Bedürfnisses nach Ursache und Wirkung, nach dem Schein verbundener Aufeinanderfolge feiert, wie er sie ironisiert. Da dankt das Ich dem Genossen Stalin, der dafür gesorgt hat, dass der Vater erst nach der Geburt des Sohnes ums Leben gekommen ist. Und auch „[d]er Genueser Columbus entdeckte Amerika rechtzeitig, / andernfalls ihn die Seestreitkräfte der USA hätten aufhalten können“ (zwei Zeilen aus dem Gedicht Zeit in sich). Zeit ist bei Kuprijanow ein Ort, an dem der Sinn für den Wahn Urstände feiern kann, und der führt dann irgendwie auch geradewegs ins Paradies. Im Paradies aber ist Gott zu Hause. Und was hat Gott noch einmal gesagt? Gott hat gesagt: Lasset die Kindlein zu mir kommen! Und so gehen bei Kuprijanow in das Paradies, das Zeit nur als Ewigkeit kennt, alle als Kindlein ein. In seinem Himmel, in dieser Heisenberg beunruhigenden Paradoxie ewig bleibenden Verlaufens, spielen Urgroßeltern und Urenkel, tausende Generationen, miteinander im selben Stadium der kindlichen Unschuld, das nie vergehen wird. Was aber ist mit dem Paradies auf Erden? Alles – diese Lösung findet sich bei Kuprijanow – nur eine Frage der Namen. Leicht können die Grenzen zwischen den Wörtern, mit den Namen von Ländern, die einander entgegenstehen, nationale Grenzen um- und ausgeklappt werden. Was wären die USA, wenn sie auf einer kleinen Insel Zuflucht suchen müssten? Wenn der Nordatlantik als Element in unterschiedlichen Machtgefügen Russland nicht mehr wiederfände? Was sind die USA? Was ist Russland? Kuprijanow hat den speziellen Sinn für den Wahn. Und vielleicht ist er, weil er Letzteren sehen kann, selbst der Mann, von dem er im folgenden Gedicht schreibt:
Wunder der Organtransplantation Man transplantierte einem Menschen Die Augen eines Insekts. Als er sich an ihrer Insektenwelt Aus Clips und Regenbogen sattgesehen hatte, verlangte der Mensch, ihm das Gehirn eines Insekts zu transplantieren, da er fest glaubte, so mehr Schattierungen seines grauen Menschenlebens erkennen zu können?
Wjatscheslaw Kuprijanow: ПАМЯТНИК НЕИЗВЕСТНОМУ ТРУС./ Ein Denkmal für den unbekannten Feigling. Gedichte. Aus dem Russischen von Peter Steger. Pop-Verlag. Für 2020 angekündigt, aber noch nicht erschienen.
Wjatscheslaw Kuprijanow, *1939 in Novosibirsk, freischaffender Lyriker, Übersetzer von u.a. Friedrich Hölderlin, Ernst Jandl, sowie Autor von Prosa, lebt in Moskau. Bücher (Auswahl): Hard Rock. Für Udo Lindenberg. Gedichte (2003); Muster auf Bambusmatten. Wilder Westen. Gedichte (2013)
12.1.2021
Di, 19:00
YOUTUBE-KANAL DER ALTEN SCHMIEDE
Dichterloh: Max Czollek, Lidija Dimkovska, Wjatscheslaw Kuprijanow
Gesellschaft in poetischer Verwandlung
Max Czollek*: Grenzwerte.
Lidija Dimkovska: Schwarz auf weiß.
Wjatscheslaw Kuprijanow*: Ein Denkmal für den unbekannten Feigling.
* Die Autoren werden per Video live zugeschaltet.
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