Esther Kinsky im Muschelhaus der Zeit
Udo Kawasser liest den Gedichtband Schiefern von Esther Kinsky
Störstufen in der oberfläche : halden, trümmerfelder, boden bedeckt mit schieferscherben : unter den schritten unabläs- siges klacken und knirschen, schlag-, schleif- und reibelaute, metallisch hell die splittersprachige frage nach der größeren versehrung (Slate Island 1)
Der neue Gedichtband der Erich-Fried-Preisträgerin von 2020 versetzt uns in eine raue, verheerte Landschaft, auf die Schieferinseln, einem kleinen Archipel der Inneren Hebriden vor der Westküste Schottlands, auf denen vom 12. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Schiefer abgebaut wurde, zum Teil mit Dynamit und durchgehend unter unmenschlichen Bedingungen. Die einstigen Schächte stehen seit einem heftigen Sturm 1881 unter Wasser, das ganze Desaster des Raubbaus an Mensch und Natur liegt zu Tage und wer genau hinhört auf die „splittersprachige frage nach der größeren versehrung“ sieht, dass Gewalt schon in der Lautproduktion liegt, in den „schlag-, schleif- und reibelauten“, die wir auch in der menschlichen Sprache finden. Doch die Gedichte Kinskys gehen nicht durch diese Türe, um die Sprache selbst zu hinterfragen, sondern bleiben in einem sensiblen Vertrauen auf Sprache gegründet, eine Welt- und Selbsterkundung im Modus des Lesens und Schreibens, die als Metaphern immer wieder aufs Neue in den Gedichten inszeniert werden.
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Erinnerungsfurchen im Stein und Gehirn
Denn Kinskys Intentionen gehen auf die Erinnerung als solche, mit deren Thematisierung der dreiteilige Band auch gleich zweifach anhebt, einmal auf Englisch mit Memory (S. 11), einem Gedicht, das Reminiszenzen an die Anreise über Glasgow und die Küstenstadt Oban enthält und in eine doppeldeutige Schlusszeile mündet, „so dicht so dicht am rand der furchen tiefer zeit“. Hier zeigt sich auch gleich die Raffinesse des Verses, kann man doch das „dicht“ als Ortsangabe in Bezug auf die „leeren fenster in häusern mit kieselputz“ in der Strophe davor lesen oder aber durch die Absolutstellung der Zeile und des Titels des ersten Abschnitts „Deep Time“ auch als Auftrag an sich selbst, sich dichterisch mit der Tiefenzeit und dem Gedächtnis auseinanderzusetzen. Und so folgt konsequenterweise Erinnerung 1, ein wuchtiges Stück Reflexionspoesie, das durch das Bild des brüchigen Schiefers und seiner schichtweisen Bildung, das mit den „furchen und falten des hirns“ in Analogie gesetzt wird, tief in den komplexen Prozess des Erinnerns, der Evokation von „Abwesenheiten“ führt (S. 12):
[…] mit jeder anrufung, aufrufung durch nen- nung verändert sich gesicht und gestalt der abwesenheit : der name nimmt auf, was sich um seine nennung tut, und das von außen angedrungene gebräch legt sich als schicht um ihn: fetzen, splitter, bruchstücke werden sich fortan in die erinnerungbeschwörung mischen
Englische Splitter
Diese Einsicht in die Vielschichtigkeit von Sprache, das Mitschwingen von mehrfach gebrochenen Geschichten und brüchiger Geschichte in jedem Wort, dürfte die Dichterin auch bewogen haben, an mehr oder weniger exponierten Stellen das ihr von früh an vertraute Englische einzubringen. Sei es durch die Originalzitate am Beginn der drei Abschnitte, die von Charles Olson, John Burnside und Bim Sherman stammen, sei es durch „ersammelte wörter“ wie „bracken“ für Adlerfarn oder „lichen“ für Flechte, oder, wie eingangs schon gesehen, durch verschiedene Gedichttitel. So könnte man auf den ersten Seiten leicht den Eindruck bekommen überhaupt einen englischen Band in der Hand zu halten, denn auch der erste Teil ist mit „Deep Time“ – der geologische Tiefenzeit – überschrieben, eine Vorstellung, die auf den schottischen Vater der Geologie James Hutton (1726 – 1797) zurückgeht, der konsequenterweise unter dem Bandtitel mit „no vestige of a beginning – no prospect of an end“ zitiert wird. Diese Insistenz auf der Sprache des Orts der dichterischen Erfahrung (wobei es etwas überrascht, dass das Gälische nicht in Sichtweite gerät) zeugt von der Sensibilität der Dichterin und Übersetzerin für die tiefe Verbindung von Sprache und Landschaft und vom gleichzeitigen Dilemma, Erlebnisse und Erfahrungen, die an einer anderen Sprache als der Gedichtsprache angelagert sind, in diese zu bergen.
Die Versehrtheit von Stein und Existenz
Und selbst der Rückgriff auf fremdsprachliche Elemente ist keine Garant für eine originäre Wiedergabe des Vergangenen, denn Erinnerung, so das zutiefst konstruktivistische Verständnis von Gedächtnis, das sich in Kinskys Reflexionen äußert, verändert sich durch jeden Akt des Erinnerns (S. 12):
[…] jedes erinnern ist ein akt der aufsuchung, und mit jeder aufsuchung durch nen- nung entfernt sich eine abwesenheit weiter von dem punkt, an dem sie war […] immer wie- der neue belichtungen überlagern einander, immer wieder neue tonlagen, in denen der aus wachsender ferne gerufene name erklingt
So unabschließbar die Verwandlungen des Schiefers und der Erinnerungen sind, so unabschließbar ist der Prozess der Sprache, der in jedem Sprechakt das Gelände des Sagbaren umpflügt und neu schichtet. Der Verletzlichkeit und Brüchigkeit des Schiefers entspricht die „bleibenden versehrtheit“ der Existenz, zu der sich der Mensch sprachlich verhält. Es ist das Verdienst von Kinskys Buch, diesen Versehrtheitshorizont nicht zu leugnen, sondern offenzuhalten und sprachlich produktiv zu machen.
Die Bildwelt der Schrifttierchen
Sowohl der erste Teil, „Deep Time“ als auch der dritte, „Schrifttierchen“, bestehen aus Gedichten in strophiger Form, die stärker evokativ angelegt sind, und blockförmig umgebrochenen Prosagedichten, die vor allem die Reflexion vorantreiben. Während „Deep Time“ verstärkt die metaphorischen Möglichkeiten von Schiefer, Gehirn, Erinnerung und Verletzlichkeit ausschreitet, zeigt sich in „Schrifttierchen“ ein allgemeineres naturkundliches Interesse, das auch die Botanik „Floral 1-4“, die Fauna („Emberiza calandra“) und die Kristallentstehung („Kristallwachstum“, „Schiefgold“) breiter zur Sprache bringt. Die Titel beider Teile aber, die poetische Findungen zu sein scheinen, stammen aus dem wissenschaftlichen Wortschatz und zeigen, wie der Mensch selbst in den Wissenschaften bildhafte Weltentwürfe schafft, also dichtet. Denn die titelgebenden Schrifttierchen oder Graptoliten, die man beispielsweise auf einer dunklen Tafel im Naturhistorischen Museum in Wien bewundern kann, sind eine ausgestorbene Tiergruppe, die wie Korallen in Kolonien lebte oder frei im Wasser schwebte und zu den wichtigsten Leitfossilien des Ordoviziums und Silurs zählt. Ihren Namen verdankt sie ihrem schnörkelartigen Aussehen, als hätte sie ein früheres Zeitalter gleichsam hinnotiert. Esther Kinsky, die in einer osmotischen Beziehung mit der Sprache zu leben scheint, geht solchen (anthropomorphisierenden) Bildern aus der Geologie und Paläontologie nach und führt sie in ihre Gedichte ein. So etwa, wenn sie in „Ach“ (S.19) von „rostadern“ im Gestein spricht oder in „Griffeln 1“ (S.79) ganz entgegen der Wendung vom ungerührten Herz aus Stein feststellt:
Es gibt sie doch die tränen im stein unersichtliche reste der rührung und einer art sanftheit ein dunst nur mitteilungslos unter der hand
Die Lesbarkeit der Welt
Jenseits von unhinterfragten Anthropomorphisierungen schreibt sich Kinsky mit Neologismen (zurrsam, wirtswortel, engfels, widerschwarz, oberbrüchig etc.) und sprachlichen Fundstücken aus der Wissenschaft am Rand der Sprachlosigkeit entlang und forscht den Möglichkeiten nach, das völlige Anderssein, wie es das Mineralische darstellt, les- und damit sagbar zu machen. Im schon angesprochenen „Ach“ (S.19) insistiert die Autorin:
so lässt sie sich lesen die ader bei licht in gewissem winkel und gibt sich als schriftbild goldrötlich die mögliche botschaft […]
Welche Lesbarkeit der Welt wird da, um mit Blumenberg zu sprechen, vorausgesetzt? In Kinskys Natur ist kein Schöpfer zugegen, dessen Spuren für den Menschen lesbar werden, da der Topos immanent interpretiert wird und zwar einerseits vom vorgeschichtlichen Erdgeschehen her und andererseits von der Intentionalität der menschlichen Wahrnehmung. Durch das lyrische Ich kommt der Mensch als Wesen in Sichtweite, das gar nicht anders kann, als mit sinnstiftender Wahrnehmung an die Welt heranzugehen und diesen Drang in seinem vornehmsten Medium, der Sprache, auszuagieren. Und so wird „eine graphische verwachsung“ zu einem
[…] lesestück ein fastwort von wucht und überrumpelter landschaft die sich in der ader vergaß.
Menschliche Stimmen im Schiefer
In dieser mineralisch dominierten Welt spielt aber auch der Mensch seine, wie zumeist, destruktive Rolle, ja ist zuletzt auch Produkt seiner extensiven, bis zum Kollaps führenden Abbautätigkeit. Und den Menschen ist der Mittelteil des Bandes gewidmet, wie der musikalische Titel „Siebenunddreißig Stimmen“ schon anklingen lässt, der völlig anders aufgebaut ist als die anderen beiden Teile. Thematisch bleibt er mit der alphabetisierenden Schule, den anderen Teilen verbunden. Denn basierend auf einem alten Klassenfoto vom Archipel kommen 35 Schulkinder und der Fotograf in Vierzeilern mit ihren Konfessionen zu Wort und artikulieren darin ihre momentanen Befindlichkeiten, ihre Wünsche und Hoffnungen. Die Anordnung dieser Prosastücke, je zwei pro Seite, verweist auf eine größere künstlerische Absicht, denn unter jedem Vierzeiler läuft eine poetische Zeile, die sich über den ganzen zweiten Teil erstreckt, wobei die obere Zeile dem Erinnern gewidmet ist und die untere dem Lernen. Bei ihrer Lesung aus dem Buch bei den Kulturtagen in Lana 2020 erläuterte Kinsky ihre Vorstellung von einem Chor, der diese beiden Zeilen über die Einzelkonfession hinweg spricht oder singt, und gab Ihrer Hoffnung auf eine zukünftige Vertonung des Buches Ausdruck.
Damit rückt ein weiterer Aspekt von Schiefern in den Mittelpunkt, nämlich seine Multimedialität. Dem Band sind den drei Teilen entsprechend drei SW-Fotos beigegeben, die einmal nur kargen Stein und zweimal Stein und Meer ins Bild setzen. Da im Buch keine andere Person ausgewiesen ist, dürfte die fotoaffine Autorin selbst auch die Fotografin sein. Damit zeugt der Band vom umfassenden künstlerischen Wollen Kinskys, das bildnerisch, sprachlich und tendenziell musikalisch die Konfrontation mit der Landschaft der Schieferinseln und den Reflexionsraum, den sie für die Autorin eröffneten, in Szene setzt.
Die Dichterin im Anthropozän
In einem der letzten Gedichte, „postindustrial site“ (S.97), kehrt der Band zum Thema „Erinnerung“ vom Anfang zurück und fragt mit der Frau am Steg nach dem Sinn der postapokalyptischen Besichtigung der Inseln („why come here“), handelt es sich doch nach ihren Aussagen um einen „broken place“. Und es verwundert nicht, dass den Leser*innen wenige Zeilen später die Warnung entgegentritt: „man rette seine haut/ vor all den narben die hier möglich sind“. Slate Island mit seinen Halden und vom Meer gefluteten Schächten ist das Menetekel, das Kinsky für uns als Dichterin des Anthropozäns befragt hat. Ihre vielschichtige poetische Erkundung der Schieferinseln ruft ins Gedächtnis, dass wir Menschen schon lange als fatale geologische Kraft wirksam sind und es an uns ist, die Schrift in den Steinen zu lesen. Nur wer Erinnerung hat und sie auch einsetzt, kann aus Fehlern lernen und Alternativen zu seinem Handeln finden, aber noch „liegt ein morgen unberufen/in seiner furche zeit“ (S.97).
Esther Kinsky: Schiefern. Gedichte. Suhrkamp, Berlin, 2020. 103 Seiten. Euro 24,70.