Ilse Kilic
gedicht mit temporärem fluchtweg „Den Feminismus zieh ich nicht manchmal aus der Tasche. Dieses Thema ist genauso da wie die Rechtschreibung in einem Textˮ1 ich bin ein feministischer text, sagt das gedicht. ich bin ein gedicht, sage ich. weiß das gedicht bescheid über sich? kann es sich ausweisen? zeile zwölf lautet: ich bin eine frau. kann man aus zeile eins bis drei oder zwölf zweifelsfrei schließen, dass das gedicht feministisch ist? als beweismittel lässt das gedicht sich nicht zu. vielleicht aber sollte das gedicht auf seine autorin verweisen, als frau leicht zu erkennen, am vornamen ilse, das bin ich, sag ich, und ich lege mein wort ein für das gedicht. kann ein gedicht sagen, was es will? wenn ich will, kann es wollen? unsinn. ich bin jetzt sicher im zweifel. die sogenannte real existierende wirklichkeit macht es dem gedicht nicht leicht. auch die autorin strampelt mit hand und fuß. vielleicht sollte das gedicht dazu sagen dass es versucht, zu gelingen. feministisch natürlich. die autorin trägt falten voll kummer voll zorn ins gedicht. das gedicht runzelt die stirn. faltig zu sein ist ein fall für sich und für das gedicht. im herzen bin ich eine alte frau, sagt das gedicht. vielleicht aber sollte die autorin das letzte wort haben, das gedicht will immer zu viel- sagend sein. hier also spricht die autorin, mit beiden händen verjagt sie den kummer über alles, was nicht ist und alles, was ist: temporär ist dieser fluchtweg geöffnet. 1 (Liesl Ujvary, zitiert aus „Störfall Identitätˮ, Interview von Elisabeth Malleier mit Liesl Ujvary und Ilse Kilic, in [sic]Forum für Feministische GangArten Nr. 19, 1997)
„gedicht mit temporärem fluchtweg“ wurde online im Weissnet veröffentlicht
Zuletzt erschien von Ilse Kilic: Die Nacht ist dunkel, damit die Sterne sich zeigen. edition zzoo. Wien. 2020. 112 Seiten. Euro 13,90