Timo Brandt liest den Gedichtband Echo von Jonathan Perry in der neu gegründeten Edition Melos
Einer der schönen Momente in Jonathan Perrys drittem Gedichtband (nach Scherben, Sisyphus, 2018, und Mit einem Becher Süßholzlikör, edition sonne und mond, 2019) ereignet sich, bevor man überhaupt zu den Gedichten vorgestoßen ist. Dort steht, als Widmung, aber gesetzt wie ein Gedicht:
Für S., deren Namen man nur lächelnd sagen kann
In diesem ersten Text, ganz gleich, ob man ihn als Gedicht liest oder nur als Widmung, spiegeln sich bereits große Teile der Konzeption und des Charmes von Perrys Lyrik wider. Oft wirkt diese zunächst wie die unbedenkliche Feier eines Augenblicks, einer Empfindung, einer Verbindung, birgt aber, wenn erneut gelesen, nicht selten ein Geheimnis; eine Unschärfe liegt darin, die das Feierliche nicht unbedingt konterkariert, aber der glatten Erfahrung der ersten Lektüre eine gewisse Schärfe, etwas Spitzes verleiht.
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Im Lächeln bei der Aussprache des Namens stecken eine ganze Zärtlichkeit, aber auch kleine Reste von Angst, Hoffnung, Frage, Wunsch, Verzweiflung, all jenen ambivalenteren Emotionen, die der Freude beigegeben und gerade in ihrer reinsten Form am gegenwärtigsten sind. Perry verlässt sich in vielen seinen Gedichten auf diese unterschwellige, melancholische Note. Er riskiert damit einiges. Da viele seiner Gedichte oberflächlich etwas sehr Zartes und Sanftes an sich haben, könnte manche/r Leser*in diese scheinbare Ruhe mit Banalität oder Kitsch verwechseln. Auch ich habe bei dem einen oder anderen Gedicht meinen Unverhältnismäßiges-Pathos-Verdacht nicht ganz beiseiteschieben können, aber in den meisten Fällen enthält noch das schönste Bild bei Perry einen zwiespältigeren Unterton.
Wenn sie erwachen, er in ihr, sie in ihm, dann wird die Leere zwischen ihnen zum Körper eines Schmetterlings.
Thematisch fällt in den Gedichten vor allem der Fokus auf Er-Sie-Beziehungen auf, die in den Gedichten verschiedenartig ausgeleuchtet werden. Es ist zu keinem Zeitpunkt klar, ob die einzelnen Ausschnitte immer zur selben Liebesgeschichte gehören, ob die Gedichte also auch aufeinander referieren oder eher eigenständig sind. Ich neige dazu, eine übergreifende Geschichte in die Texte hineinzulesen, kann aber keine stichhaltigen Beweise dafür anführen.
Gerade in den Abschnitten, in denen die Beziehung, das Wechselspiel zwischen den beiden Personen, thematisiert wird, bekommen die ansonsten oberflächlich wie kleine Harmonien angeordneten Gedichte einen fragenden, ambivalenteren Anstrich. Es ist, als durchstieße der Zwiespalt in diesen Texten die dünnen Oberflächen, unter denen er sonst ruht.
Sie zogen in die Wohnung ein und nach einer Weile zogen sie aus. Wohin gehen die Töne im Körper der Laute, wenn der Musikant aufhört sie zu zupfen?
Sehr schön, wie auch manchmal eine kleine Wendung ausreicht, um die Ambivalenzen an die Oberfläche zu holen. Im folgenden Gedichtausschnitt ist es das Wort „immerzu“, bei dem ein Leerzeichen zwischen den Worten „immer“ und „zu“ eine ganz andere Bedeutung zur Folge gehabt – eine Bedeutung, die dann aber nach dem Doppelpunkt dennoch zutage tritt:
In einer Welt ohne Wege werden sie sich wiederfinden, doch ihre Wege zueinander wachsen immerzu: Efeu, Akazien, dornige Sträucher auf ihren Wegen.
Perrys Lyrik ist eine wunderbare Empfindungfeinstellung. Sie lehrt die Leser*innen, dass es kein wirkliches oben und unten gibt, sondern vor allem ein flirrendes Dazwischen, und auch die größte Klarheit und Einfachheit nur ein Augenblick zwischen zweimal Blinzeln, zwei Sekunden, zwei Geschichten, zwei Gefühlen sind. Gleichwohl gibt es diese Augenblicke und Perry hält auch sie sehr schön fest.
„Echo“ ist der zweite Band einer neuen Reihe (Reihe vers libre) mit zeitgenössischer österreichischer Lyrik in der neugegründeten Edition Melos (herausgegeben wird sie von Alexandra Bernhardt; bis jetzt sind vier Bände erschienen, im Frühjahr sollen zwei weitere folgen; auch eine Reihe mit komischer Lyrik ist in Planung). Dort wird auch das Jahrbuch der österreichischen Lyrik 2021 erscheinen (ebenfalls herausgegeben von Alexandra Bernhardt).
Das Buch ist schön schlicht gestaltet, einzig bemängeln will ich hier, dass es keine Seitenzahlen gibt – die sollten, und sei es nur als Zugeständnis an die armen Rezensent*innen, die sich Notizen machen, doch bitte in den Folgebänden nicht mehr fehlen.
Sie verbot ihm seine Melancholie, da ließ er sie los, vom Brückengeländer in die Locken des Bergs verschwanden sie, die Linien seiner Hände. In einem seiner Träume, auf einem Leuchtturm, kämmen sie das Haar der See, entfernen sie die Schiffe.
Jonathan Perry: Echo. Edition Melos, Wien, 2020. 56 Seiten. Euro 18,-