Günter Vallaster gibt einen Überblick über handschriftliche Verfahren der visuellen Poesie von Shodō über Christine Huber und Hanne Römer bis Thomas Havlik
Die Handschrift ist das naheliegendste und natürlichste Ausdrucksmittel der visuellen Poesie. Während typografische Ansätze vorgefertigtes Zeichenmaterial aufgreifen, ästhetisch ausloten und im unterschiedlichen Ausmaß bis zur Koinzidenz mit Bildanteilen verbinden, liegt bei handschriftlichen Verfahren die visuelle Poesie buchstäblich in der eigenen Hand. Der Treffpunkt beider gleichermaßen interessanten wie auch miteinander kombinierbaren Zugänge liegt in den Assoziationsräumen und Begriffswelten, die sie jeweils eröffnen. Die Wurzeln der heutigen Handschriftenpoesie liegen in der Kalligrafie mit ihrer jahrtausendealten weltweiten Tradition. Während sie in jüdischen, christlichen und islamischen Kulturkreisen als Teil der Buchkunst zusammen mit Buchmalerei vornehmlich sakrale Funktionen hatte, galt sie in fernöstlichen Kulturen, vor allem in China, Korea und Japan, immer als eine der höchsten Kunstformen, mit Verbindungen zur Philosophie und Zen-Meditation. Die chinesische Kalligrafiekunst verwendet seit über zweitausend Jahren die „Vier Schätze des Gelehrtenzimmers“: Schreibpinsel, Blocktusche, Tuschestein und Papier. Im japanischen Shodō (dt. „Weg des Schreibens“) werden Sinnsprüche in einer genau festgelegten Abfolge in einem Zug zu Papier gebracht, in der Performance mitunter auch mit Trommelbegleitung. Individueller Ausdruck entsteht dabei durch Pinselschwung und Dichte der aufgetragenen Tusche. Wie in Kampfsportarten, etwa Aikidō, ist in der Ausübung der daoistisch und Zen-philosophisch geprägte mentale Zustand des „Mushin“, chinesisch „Wuxin“ (dt. „ohne Verstand“), also die Befreiung von Gedanken und Emotionen von großer Bedeutung. Eine dem Anlass entsprechend ausgewählte Kalligrafie ist auch essenzieller Teil des Sadō, der japanischen Tee-Zeremonie und ist in jeder Teestube vorzufinden.
In der Moderne wurden weitere Möglichkeiten der Handschrift für die Kunst und Poesie erschlossen: Im russischen Futurismus des frühen 20. Jahrhunderts entwickelten Alexeij Krutschonych und Velimir Chlebnikov die Kunstsprache Zaum‘ (gebildet aus russ. за „hinter“ und ум „Verstand“) als Ausdruck einer radikalen poetischen Erneuerungsbewegung, die von der Suche nach einer ursprünglichen Form der Poesie motiviert war und zu der neben Gesten, Lauten und Neologismen auch flächensyntaktische und damit bildorientierte Verwendungen von Typografie und Handschrift gehörten – als Zusammenspiel von Lautpoesie, Lyrik, visueller Poesie und bildender Kunst bereits eine Form der transmedialen Poesie. Viele der Figurengedichte von Guillaume Apollinaire in seinen „Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre 1913-1916“ (1918) sind in Handschrift ausgeführt. Sie ist bis in die Gegenwart sowohl für viele Vertreter*innen der visuellen und transmedialen Poesie als auch für bildende Künstler*innen, die an der Schnittstelle von Text und Bild arbeiten, ein wichtiges Ausdrucksmittel geblieben. Einige künstlerische Positionen aus dem 20. Jahrhundert, die sich zentral über die Literatur oder die bildende Kunst der Handschrift widmeten, seien beispielhaft und ohne geringsten Anspruch auf Vollständigkeit genannt:
Henri Michaux fand als Dichter und Maler seinen individuellen Weg zu abstrakten skripturalen Bildern, die zu den prägendsten Schrift-Kunstwerken des 20. Jahrhunderts gehören. Gerhard Rühm nennt seine Arbeiten zwischen Handschrift und Zeichnung, die ab Mitte der 1950er-Jahre entstanden und keinen geringen Anteil in seiner umfangreichen visuellen Poesie ausmachen, „schriftzeichnungen“, „skripturale meditationen“ und „kritische kalligrafie“. Sie enthalten oft Einzelwörter wie „ich“, „du“, „zurück“ oder „wer“, die expressiv und geradezu narrativ meist mit dem Bleistift ins Bild gesetzt werden. Marcel Broodthaers, der als surrealistischer Dichter begann und sich später immer mehr der bildenden Kunst zuwandte, erhob in seiner Serie „La Signature“ (1969) kurzerhand sein Monogramm zum Kunstwerk. Das ebenso monumentale wie minimalistische Schlüsselwerk „Schreibzeit“ (ab 1975) der Konzeptkünstlerin Hanne Darboven besteht aus ca. 4000 Blättern mit handschriftlich festgehaltenen Zeilen und Tabellen zum Thema Zeitfluss. Die Konzeptkünstlerin Ketty La Rocca ging sogar so weit, ihre Hände mit Handschrift zu beschreiben, womit sie Verbindungslinien zwischen der visuellen Poesie und Body-Art zog. Die Handschrift spielt also eine entscheidende Rolle in der poetischen und künstlerischen Aufhebung von Grenzen: zwischen Kategorien wie Raum und Zeit, zwischen allen Kunstrichtungen und auch zwischen allen Sprachen mit ihren jeweils eigenen Schriftsystemen.
Dmitrij Avaliani, Dichter, Maler und visueller Poet, erstellte seine „Blattdreher“, Text-Bilder als Ambigramme, die gedreht wiederum Text-Bilder ergeben, aus gemalten Buchstaben und teilweise mit Bildanteilen verbunden. Zur Nichtbeachtung von geografischen und sprachlichen Grenzen in der experimentellen Poesie, besonders auch bei Avaliani die Literaturwissenschafterin und Übersetzerin Juliana Kaminskaja in ihrem Vortrag „MONTAIGNE UND THE TINTERNATIONALE. Über das sprunghafte Wesen der Poesie in experimentellen Werken aus dem deutsch- und russischsprachigen Raum“, gehalten 2014 beim Festival „räume für notizen | rooms for notes“ in der Alten Schmiede (auch in: Günter Vallaster (Hg.): räume für notizen | rooms for notes. visuelle, digitale & transmediale poesie (edition ch 2016)):
Einen besonderen Platz nehmen darunter die sogenannten листовертни /listovertni/ Blattdreher von Dmitrij Avaliani (1938-2003) ein, dessen Interesse in seinen letzten Lebensmonaten den fließenden Übergängen von der einen in die andere Sprache galt. In seinen Werken verwandeln sich kyrillisch geschriebene russische Wörter beim Drehen des Blattes um 180 Grad in englische Vokabeln. So lässt sich валюта /valjuta/ Währung als money/ Geld lesen, уют/ujut/ Gemütlichkeit wird zu war/ Krieg, und США/SŠA/ USA ergibt time/ Zeit. Die Verwandlungsfähigkeit der Elemente erlaubt es, innerhalb der visuellen Arbeiten die Trennlinien zwischen den Ländern, Sprachen, zwischen dem Fremden und dem Eigenen fast gänzlich zu vergessen.
Werner Herbst, Autor und erster Wiener Kleinverleger – in seiner 1970 gegründeten herbstpresse erschienen auch zahlreiche Lyrikbände – setzte in seinen visuellen Werken neben Stempeln und Lettern im Handpressendruck gerne auch die Handschrift ein:
Valeri Scherstjanoi entwickelte seinen „Scribentismus“ aus einer Grunderfahrung des Schreibens im Dunklen und inspiriert vom russischen Futurismus sowie verschiedenen Alphabeten, besonders der altkirchenslawischen glagolitischen Schrift. Mit dieser selbst kreierten Schriftzeichensprache verfasst er seit vielen Jahren sein „scribentisches Tagebuch“ als Work in Progress. Seine scribentischen Text-Bilder sind zugleich lautpoetische Notationen und Partituren:
Angelika Kaufmann ist bildende Künstlerin mit intensiven Bezügen zur Literatur, u. a. zur Lyrik von Friederike Mayröcker oder auch als Illustratorin von Kinderbüchern. Das Alphabet, die Schrift und damit verbunden die Handschrift stehen im Zentrum ihrer Werke. In der bildenden Kunst verankert, präsentiert sie ihre Text-Bilder und skripturalen Objekte in Ausstellungen, die sich durch ihre Exponate zu transmedialen Räumen verdichten. Angelika Kaufmanns Werke eröffnen zahlreiche neue ästhetische und sprachreflexive Perspektiven auf die Schrift und die Poesie. In ihrem handschriftlichen Reisetagebuch „…Reise nach…“ (2007) hat sich das Ruckeln des Geländewagens auf der Fahrt durch die Wüste Jemens als Stilmittel auf das Schriftbild übertragen.
Nicht unerwähnt seien auch Ansätze an der Schnittstelle zwischen Handschrift und Technik, etwa SCRIBO, eine mittels Technik erzeugte Interaktion von Klang und Pinselstrich von Christoph Theiler sowie das Zeichnen und Schreiben mit der Computermaus von Günther Kaip oder Ilse Kilic:
Im Übergangsbereich von der Kalligrafie zum Asemic Wiriting bewegt sich Denise Lach, etwa in ihrem Band „Schriftspiele. Experimentelle Kalligrafie“ (Haupt Verlag, 2. Aufl. 2013). „Asemic Writing“ taucht als Bezeichnung erstmals 1997 bei den visuellen Poeten Tim Gaze und Jim Leftwich auf. Gemeint ist damit Erweiterung oder auch Ersatz der herkömmlichen Schreibschrift durch eine freie Zeichenfindung mit daraus resultierender offener Semantik. Dies kann durch grafische Modifikationen bestehender Schriftzeichen erfolgen, etwa Größenänderungen von Schriftbögen, Ober- und Unterlängen oder überhaupt durch deren Auflösung. Das Asemic Writing ist gegenwärtig der De-facto-Standard, über den viele Autor*innen ihre eigenen handschriftlichen Wege zur visuellen Poesie finden, oft in transmedialer Kombination mit weiteren Ausdrucksweisen wie Lautpoesie / Sound Poetry oder Musik. Einen sehr guten Überblick über das aktuelle weltweite Geschehen in diesem Bereich bietet das Asemics Magazine, herausgegeben vom Ontological Museum in New Mexico und „An Anthology of Asemic Handwriting“ (2013), herausgegeben von Time Gaze und Michael Jacobson.
Thomas Havlik gehört zu den aktivsten Vertreter*innen des Asemic Writing im weltweiten Kontext, wobei es bei ihm ein gleichberechtigter Teil eines vielfältigen Spektrums an Ausdrucksformen ist: Lyrik, Prosa, Sound Poetry, gestische Poesie, Musik, Film, Performance, Tanz – all dies sind zusammengehörende und zusammenwirkende Elemente seiner Poesie, die transmediale Räume öffnet und füllt. 2020 stellte er in der transmedialen Poesiegalerie seine Werke „Okular“ und „LADN“ aus. Dazu erläutert Thomas Havlik:
LADN (Collage, Bass-Partitur aus asemantischen Sprachgebäuden) sowie: Okular (bearbeitetes Foto, Tusche, Acryl, Text) versuchen sozusagen auf ähnliche Weise, Landschaften in Schrift zu übersetzen oder besser gesagt: Sprachschicht um -Schicht abzutragen, um zu ihrem materialhaften Kern vorzudringen. “LADN” (Land) verweist auf die Verwandtschaft von Sprechen und Musik und stellt den möglichen Beginn einer Bass-Partitur dar, die für das Wummern und Antreiben unter der unterbewussten blubbernden Plapperoberfläche steht. Dementsprechend bestehen die verwendeten Noten aus asemantischen Sprachgebäuden, den sprechenden Partikeln, die sich überall da, wo Menschen waren oder sind, finden lassen. Während “LADN” sich ein ganzes Land beziehungsweise einen Staat als Ziel seiner Durchdringung aussucht, zoomt auf ähnliche Weise die Arbeit “Okular” in einen konkret-unkonkreten Landstrich/in eine bestimmte, eingegrenzte Gegend: ein Silbenfischen im sprachlichen Unterbau der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin.
2019 veröffentlichte Thomas Havlik in der Hesterglock Press, Bristol mit „durch / through“ einen Band mit Asemantic Writing. Als Nachwort-Notiz vermerkt darin der Autor:
Durch, gleichermaßen visuelle wie auch akustische Poesie, entfaltet eine radikal subjektive asemantische Novelle, die einen Bogen von den Höhlenmalereien der Anfänge der menschlichen Zivilisation zum postliterarischen Emoji-Zeitalter des 21. Jahrhunderts spannt. Seine Absicht ist, den Bibliophilen in einen halluzinatorisch-druchlässigen Zustand zwischen Lesen und Schauen zu versetzen und so die Geburt des Lesers zu feiern, der angehalten ist, seine eigene Geschichte zu übertragen und zu interpretieren. Es ist der Versuch eines ultimativen Griffs ins Unterbewusstsein, um so das unartikuliert wirkende Wort auszudrücken, das zensurresistent von jedem und jeder, unabhängig von Herkunft und Nationalität, verstanden werden kann. Wir sind nicht in der Lage, uns zu äußern, ohne etwas zu sagen. Alles, was wir haben, sind Zeichen und Symbole.
Hanne Römer/.aufzeichnensysteme stellte in der transmedialen Poesiegalerie 2020 mit dem Titel SATZ ein Arrangement aus zwölf mit Tusche und Rohrfeder gezeichneten Text-Bildern aus, deren wesenhaften Darstellungen ephemer und spatial die Schwebe zwischen Zeichen und Bild halten und damit zum einen auf fernöstliche Kalligrafietraditionen rekurrieren, zum anderen auch darauf, dass sich die Schriftzeichen der Linearschriften aus piktografischen Schriften entwickelt hatten. „Satz“ kann etwas mit „setzen“ oder auch mit „springen“ zu tun haben und vereinigt so gesehen Gegensätze, auch im Sinne des Daoismus, der chinesischen „Lehre des Weges“, mit der sich die Künstlerin intensiv beschäftigt. Hanne Römer verbindet und verschränkt in ihrem Werk als „.aufzeichnensysteme“ alle möglichen Arten der Aufzeichnung, besonders bildnerische und sprachliche und sogar die Geräusche der Feder beim Zeichnen zu dichten transmedial-poetischen Räumen.
Christine Huber ist eine der konsequentesten experimentellen, sprachreflexiven und sprachmaterialbezogenen Autor*innen. Zu ihrem breiten Repertoire an Ausdrucksformen zählt neben avancierter Lyrik und Prosa auch die visuelle Poesie in vielfältigen Auffächerungen. 2019 stellte sie in der transmedialen Poesiegalerie ihren Originalbeitrag „freiheit / diktatur“ aus, ein typografischer Leinwand-Diptychon, der durch antithetische Umkehrung, gleichsam Spiegelung der zweizeiligen Wortkonstellation „unmöglich machen / machen unmöglich“ Inhalt und Umfang der antonymen Begriffe „Freiheit“ und „Diktatur“ poetisch spannungsvoll in klarem Schwarz auf Weiß auf den Punkt bringt. In ihrer visuellen Poesie ist sie mit unterschiedlichen, stets materialbezogenen Verfahrensweisen mit geradezu haptisch wahrnehmbaren Ergebnissen den Zeichen und Texturen auf der Spur, sei es durch Lithografien oder mittels Papierkugeln, die in Tinte getaucht über das Blatt gerollt werden und dabei Schriftspuren hinterlassen, oder durch ihre Handschrift: Diese Arbeiten nennt sie Text-Grafiken. Die visuelle Poesie wird von ihr auch live und dabei gerne in Kooperation mit bildenden Künstler*innen wie Eli Schnitzer oder Musiker*innen wie Michael Fischer interaktiv performt. Juliana Kaminskaja in „MONTAIGNE UND THE TINTERNATIONALE. Über das sprunghafte Wesen der Poesie in experimentellen Werken aus dem deutsch- und russischsprachigen Raum“:
So erlauben es Arbeiten wie die Textgrafik und Lithografien Zeilen, die sich legen (...) dem Publikum, anhand eigener Erfahrung zu erleben, dass eine Mitteilung auch dann zustande kommen kann, wenn das übliche Verstehen des Textes ausgeschlossen bleibt.
In einer Zeit, in der Tastaturen die Handschrift immer mehr zurückdrängen und verkümmern lassen und bis auf Unterschrift und Einkaufszettel kaum noch mit der Hand geschrieben wird, können handgeschriebene Schrift-Bilder als poetische Signaturen spannende und wichtige Kontrapunkte setzen. Handschrift gilt es generell als kognitive Fähigkeit, motorische Fertigkeit und alleine schon haptisches Erlebnis zu fördern und zu bewahren. Dies belegt auch die derzeitige Beliebtheit des Handletterings, einer weniger aufwändigen Form der Kalligrafie, das sich durchaus in die Palette visuell-poetischer Ausdrucksmittel einfügen kann. Inwieweit die technische Entwicklung und mögliche größere Verbreitung von Tablets mit Eingabestiften (Stylus Pens) eine Gegenentwicklung zum monotonen Tippen auf Tastaturen einleiten kann, bleibt noch abzuwarten. Grafiktabletts mit Stiften werden indes in der Gebrauchsgrafik schon seit einigen Jahren häufig eingesetzt und die Möglichkeiten der Strichglättung, die Illustrationsprogramme bieten, können sowohl zu weiteren visuell-poetischen Ausdrucksweisen als auch Glättungen genau widerlaufenden schriftpoetischen Reaktionen führen.
Zu beachten gilt es auch die Entwicklung der Schreibroboter, die im Geiste des Uhrmachers Pierre Jaquet-Droz, der ab 1770 mit „Der Schreiber“, „Der Zeichner“ und „Die Organistin“ Automaten-Puppen konstruierte, die wie Proto-Androiden wirken, menschliche Handschrift imitieren oder kopieren und derzeit Namen wie „Wunderpen“ und „Scribit“ tragen. Auch verbesserte Diktiersoftware könnte das manuelle Schreiben zunehmend verdrängen und ersetzen, mit noch nicht abschätzbaren positiven und negativen Effekten. Dennoch dürfte dem Schreiben mit der Hand, nicht zuletzt dem kreativen, poetischen und transmedialen im Übergangsbereich von Text und Bild die Faszination des ganz persönlichen Fingerabdrucks, der sprichwörtlichen eigenen Handschrift nicht abhandenkommen.