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Ein Buch aus reinem Nichts

Ein Buch aus reinem Nichts

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Stefan Schmitzer liest das neue Buch von Gundi Feyrer


Heute habe ich geträumt, ich müsse die Zahl 26 vor die Zahl 20 oder die Zahl 21 stellen. Ich müsse also das Nachfolgende vor das davor Kommende stellen, das Danach vor das Davor, das MorgeN vor das Heute stellen und ziehen und somit mein Gesicht dem Himmel voranstellen (…)

So beginnt, von einem Vorwort abgesehen, Gundi Feyrers Der Tempel des Nichts (Das Zaubern). Dieser erste Halbsatz, „Heute habe ich geträumt“, leistet dabei Schwerstarbeit. Zum einen verankert er den Text, oder das Geflecht mehrerer Texte, als das wir das Buch lesen können, in einer plausiblen Sprechsituation – stets werden wir zu dieser einfachen Tatsache zurückspulen können, X habe geträumt und spreche jetzt darüber – zum anderen ist der Halbsatz so unaufdringlich, dass wir ihn rasch vergessen können – erleichtert also das immersive Sicheinlassen. Der Band lebt, man sieht es im obigen Zitat, vom höchst systematischen Abarbeiten höchst arbiträrer Setzungen, oder, genauer, von der Behauptung, der wir mit der Kenntnisnahme dieses Systematischen unmerklich mit-zustimmen:

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Es gebe genau da, wo wir zuerst arbiträre Setzungen sehen, ein Gesetz, einen Sinn. Was wir lesen, ist sozusagen die Traumlogik-Variante eines Sachbuchs über den Traum … Aber was heißt das konkret? Was liegt greifbar vor? – Zwischen etwa fünf und etwa zehn Textstränge sind da organisiert über knapp neunzig A4-Seiten, unterscheidbar durch Details (wirklich: Details) im Schriftsatz. Die Stränge erscheinen und verschwinden von Seite zu Seite an unterschiedlichen Stellen und sind zum Teil gezielt verschachtelt oder gehen ineinander über – je genauer wir hinsehen, desto unklarer werden die Abgrenzungen. Ein denkbarer Kritikpunkt an dieser Stelle beträfe die konkrete Umsetzung dieser an sich stimmigen formalen Entscheidung: kondensierte und serifenlose Schriften mit einzeiligem Abstand im Blocksatz sind schon für Leute schwer lesbar, die keine Brille brauchen – denkbare Lösungen wären doppelt so viele Seiten, oder, wenn die bildnerische Gestaltung der Textblöcke auf dem Blatt beibehalten werden soll, größeres Papier, aber mit, sagen wir, 15- statt mit 10-Punkt-Lettern … Eine solche Kritik träfe wie gesagt die konkrete Umsetzung, nicht den Einfall der schwer unterscheidbaren Textblöcke selbst – denn wie gesagt: je genauer wir hinsehen, desto unklarer wird jede Grenzziehung; und hierin entspricht die Form genau dem Inhalt.

Feyrer nähert sich den Phänomenen an, die wir als Brüchigwerden von Kausalität in den mikroskopischen Grenzbereichen der Physik beschreiben können – populär subsumierbar unter dem Schlagwort „Quantenphysik“. Also: dass es Arten von Mathematik gibt, die, in Sprache übersetzt, Paradoxa zeitigen oder einfach nicht mehr funktionieren – und dass es physikalische Beobachtungen gibt, die nahelegen, dass diese Arten von Mathematik einigen Phänomenen in der Wirklichkeit angemessener sind als die Grammatik der Alltagssprache. In der wirklichen Welt kann nun diskutiert werden, ob das, was wir von der „Quantenwelt“ wissen, tatsächlich mit überlieferten Ideen von jenem „Zaubern“ zu tun hat, das im Titel von Feyrers Buch steht – mit jener Mystik, bei der Subjekt und Objekt, Zeit und Raum  bedeutungslos werden – oder ob wir es eher mit einem Epiphänomen der Fehlübersetzung zu tun haben (einem von außen gestörten System, über das sich im Moment der Störung mehr lernen lässt als über den Störfaktor) … Dass uns erlaubt wird, diesen ganzen Fragenapparat zu ignorieren und das Thema stattdessen konsequenzlos, literarisch als Schilderung eines Traums verankert, zu besichtigen – sozusagen suspendiert zwischen der mystischen und der Subjekt-Objekt-Welt wie Schrödingers Katze zwischen Leben und Tod – das macht den großen Reiz von „Der Tempel des Nichts (Das Zaubern)“ aus.

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Gundi Feyrer: Der Tempel des Nichts (Das Zaubern) · Ritter, Klagenfurt, 2020 · 90 Seiten · € 18,90 

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