Andreas Unterweger
Kabul 1 Wenn der Frühling kam, war wieder Krieg, und wir achteten darauf, dass wir die Sonne, wie wir es gelernt hatten, immer im Rücken hatten. Auf den Terrassen all der Teehäuser auf den Kabuler Boulevards besetzten wir immer dieselben Plätze (die mit dem Rücken zur Sonne), so dass für all die Mädchen, die, damals noch, täglich ins Teehaus kamen, nur noch die anderen, die in der Sonne, blieben. Während die Mädchen somit, um uns sehen zu können, gegen das Licht blinzeln mussten, konnten wir die Mädchen ansehen, ohne zu blinzeln. Und während sie die Augen, wegen der Sonne, bald ganz geschlossen hielten (so dass es uns, in ihren Augen, eigentlich nicht mehr gab), gab es für unsereins, wenn er auf diese Weise (großäugig) ein Mädchen ansah, nichts, was mehr da war (nichts mehr, was da war?) als sie … Ihre Haut war so hell, dass man das Mark in ihren Knochen sah … Ein Tuch auf ihrem Haar war besser als die Welt. 2 Für sie zu sterben war das Mindeste. Doch mindestens genauso gut war es, hier so, die Sonne hinter uns, zu sitzen, und die Mädchen anzusehen … Wie sie so dasaßen, die Sonne im Gesicht, die Augen (schwarz umrandet) zu, musste ich jedes Mal wieder – das weiß ich noch – an Weintrauben denken … Nicht an Korallen, Perlen & Rubine, sondern an Trauben, Weißweintrauben, solche mit sehr, sehr hellem Fleisch … Aber in Wirklichkeit, schon klar, waren es keine Trauben (oder Korallen, Perlen & Rubine), die wir sahen, sondern nur: Mädchen – Mädchen mit sehr, sehr weißen Lidern, Mädchen, weiß von dem Sonnenlicht, in dem sie saßen, warm von der Sonne, und die Augen zu … Es waren weiße, kristallklare Trauben. Alles, vom Himmel bis zum Boden, war von ihrem Duft erfüllt. 3 Von uns aus hätte es bis in alle Ewigkeit so (Teehaus-Terrasse, Sonne, Mädchen in der Sonne) weitergehen können, aber: so ging es eben nicht, nicht hier bei uns, hier in Kabul, schon gar nicht hier, bei uns, in Kabul, wenn der Frühling kam … Wenn der Frühling kam, war wieder Krieg, und im Krieg sah man keine Mädchen, konnte das nicht, wie auch, sondern starb für sie – das war (das wussten wir, die wir damals dort saßen, auch) der Krieg: Wir starben für Mädchen, die es gar nicht gab … Es gab ja nur das Teehaus und, in der Sonne dort, die Mädchen. Wir sahen die Gesichter, hell und: unsagbar klar … Was sich in ihnen spiegelte, erleuchtete die Welt.
Das Gedicht Kabul von Andreas Unterweger erschien zuerst in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 221. Styria Print. Graz 2018. Euro 10,-