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Ein Sturm hinter dem Auge

Ein Sturm hinter dem Auge

Helmut Neundlinger über ein Gedicht von Ilse Helbich

Empfindung in Landschaft
 
Die Leere des Himmels, die ausgebreiteten Felder
die Verknotungsgebärden der Sträucher
sind dem Gehenden stumm;
voraus seinem stetigen Schritt drehen
sich wirbelnd die Zorngedanken
über die Wiesen gejagt von einem Sturm,
der die Pappeln nicht anrührt, Zorngedanken
mit rasenden Rädern schneiden sie den Himmel
gehen dort verloren
ehe sie wiederkommen
eingeschmolzen zu schwarzen Angstbrocken
während der Gehende geht.
 
Während der Gehende geht, aufrecht
die Zeiger der Pappeln vorm Loche des Himmels
ehe der Schrei
die gerasterte Landschaft zerbricht.
 
Dann: Wellen der Felder. Pappelsäulen. Und Himmel.
Im Gehen sagt sich der Gehende:
Aus nichts wird nichts. 

Ein Sturm hinter dem Auge

Ilse Helbichs Gedicht beginnt menschenleer, beinahe abstrakt. Die erste Zeile wirkt wie die Eröffnungseinstellung zu einem filmischen Geschehen, das sich gleichsam hinter dem Horizont zusammenbraut. Das Gegenständliche tritt uns vertrackt entgegen: Nicht die Sträucher selbst, sondern ihre (anthropomorphisierenden) „Verknotungsgebärden“ ragen in den Blick des Betrachters, eines „Gehenden“, und zwar „stumm“. In diesen stummen Gebärden scheint sich das Starren der Landschaft noch zu verstärken. Der darauf folgende Satz verweist in seiner Struktur auf die vertrackte, latent köchelnde Stimmungslage des Protagonisten. Es sind Zorngedanken, die ihm vorausgehen, die sich allerdings nicht gleich zeigen, sondern erst am Ende einer über zwei Zeilen greifenden sprachlichen Kreuzung, in der zum Ausdruck kommt, wie sehr der Gehende außer sich geraten ist, indem er seinen Gedanken hinterherhinkt. Dabei ist er nicht der einzige Gedanken-Folger auf weiter Flur: Ein Sturm jagt hinter den Gedanken her, vergleichbar vielleicht jenem, der „vom Paradiese her“ weht, wie es Walter Benjamin in seiner Interpretation zum Bild Angelus Novus von Paul Klee formuliert. Benjamin zufolge stellt sich die Vergangenheit dem Engel dar als „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“ (vgl. These IX zum „Begriff der Geschichte“). Ähnlich verhält es sich in Ilse Helbichs Gedicht: Die Zorngedanken schmelzen zu „schwarzen Angstbrocken“ in den Augen des Gehenden. Die von Walter Benjamin angesichts des Bildes assoziierte Apokalypse namens Zukunft findet ihre Parallele in der zweiten Strophe von Ilse Helbichs Gedicht: Ein Schrei zerbricht die „gerasterte Landschaft“, und man kommt als LeserIn nicht umhin, diesen Zusammenbruch als eine Art von Befreiung zu empfinden, die möglicherweise auch eine Flucht aus der zwanghaft getriebenen Bewegung bildet, die sich in der Wiederholung der Formel: „Während der Gehende geht“ manifestiert. Die letzte Strophe deutet eine Befreiung an, ohne dass sich der bohrende Impuls des Gehens gänzlich verloren hätte. Immer noch ist er unterwegs, weiterhin geht der Gehende und entlässt uns mit der ernüchternden Phrase: „Aus nichts wird nichts.“

Von der ersten bis zur letzten Zeile entwickelt, oder besser: verwickelt der Text zwei Ebenen so plastisch ineinander, dass innere und äußere Landschaft nicht mehr voneinander zu trennen sind. Einer allzu trivialen Form der Analogisierung entkommt die Autorin durch ihre virtuose Erweiterung der syntaktischen Ebene: Sie schreibt bewusst keine fertigen, keine „runden“ Sätze, in denen das Eine im Anderen aufgehoben wäre, sondern entwirft eine Struktur des Fragments, der Verschachtelung, welche die Grundspannung des Textes nachvollziehend gestaltet.

Eine zusätzliche Qualität entwächst dem Gedicht aus seinen unscheinbaren Rätseln, die in lapidarem Ton festgehalten werden: Warum rührt der Sturm die Pappeln nicht an? Warum zerbricht ausgerechnet die „gerasterte Landschaft“? An keiner Stelle bildet sich ein vertrauter Boden unter den Füßen, unerbittlich treiben die Gedanken den Gehenden an, bis alles sich wieder in Nichts aufzulösen scheint, in die „Leere des Himmels“, und wieder und wieder von vorne beginnt. 

See Also

Ilse Helbich: „Empfindung in Landschaft“ aus: Im Gehen. Droschl Verlag, Graz, 2017, S. 15.

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