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Melancholiestrippenziehend oder #troubadingsda

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Monika Vasik liest nicht die Hymnen, die ihr sucht von Timo Brandt


Vor fünf Jahren debütierte der Dichter Timo Brandt mit seinem Lyrikband „Enterhilfe fürs Universum“ (edition offenes feld 2016). 2020 legte er mit „nicht die Hymnen, die ihr sucht“ die zweite Gedichtsammlung in diesem Verlag vor. Es ist dennoch nicht sein zweites Buch, sondern bereits sein fünftes – ein bemerkenswerter Ausstoß in erstaunlich kurzer Zeit. Der 1992 geborene Schriftsteller und Vielleser lebt, wenn wir dem Gedicht „Ich bin mir nie begegnet“ trauen können,

mit meinen Versen auf den Lippen
die aus dem Nichts zu kommen schienen

und sehnt sich danach, dass diese „ein Leben lang“ reichen mögen. Man kann sich das möglicherweise so vorstellen:

Ich dachte an dies und an das und es fiel ein Vers
mir ein und tief wie Taumel.
Sogar ein zweiter. Und ein dritter, schon gekeimt.
Und es folgten immer mehr.

© Copyright edition offenes Feld

Es wird daraus, trotz des märchenhaften Anklangs, keine Geschichte ähnlich jener von Goethes Zauberlehrling, in der ein Dichter der Verse ob ihrer Masse nicht mehr Herr wird. Denn dass hier kein Übermensch dichtet, dem die Verse, angestoßen und genährt durch eine Vielzahl an Lektüren, quasi zufliegen, macht Brandt im selben Gedicht deutlich:

Alles rauschte vorbei und als ich dann am Schreibtisch
zum Schreiben niedersank und saß:
Keine Zeile, keine, fand sich,
nur noch der Gedanke: so muss es sein,
das Ganze.

Zum Cover des Buchs

Es zeigt den Ausschnitt eines Fotos von Verena Dürr: drei schlichte Sessel, aufgereiht auf einem klein gemusterten Boden, davor eine blaue Linie – es könnte eine Begrenzung sein: bis hierher und nicht weiter. Zwei Sessel sind an der Hinterwand des Raums platziert, der mittlere eine Sesselbreite vorgerückt, wobei zwei Beine vor der blauen Linie stehen. Das Arrangement imponiert zum einen wie eine Einladung, sich auf den mittleren Stuhl zu platzieren und dem Dichter zuzuhören. Zum anderen ernüchtert es als Bild für die prekäre Situation der Kultur, da wegen des Corona-Lockdowns alle Sessel leer bleiben, die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Erleben von Kultur derzeit nirgendwo gestillt werden kann.

Und die Gedichte?

Dieser Band ist wie die vorherigen kein Konzeptband, sondern es waren, so scheint es, einfach genug Gedichte vorhanden, um sie, gegliedert in sechs Kapitel, in einem Buch zuvereinen. Verschlagwortend könnte man sagen, es geht darin oft um Beziehung und Vorlieben, genauer um Liebe, Lektüren und Lieder. Da ist einerseits die Liebe, grundiert etwa von der Musik Bob Dylans, die sich auf ein Du ausrichtet, eine mal nüchterne, mal romantisch anrührende Liebe zwischen Sehnsucht nach Echtheit, Zweifeln, Erfüllung, Enttäuschung und Trennung.

Wo ist das Einsehen, dass
Liebe unser bestes Geschick
die schönste aller Gesten deine
und der stärkste der Götter keiner
ist.

Diese Liebe ist manchmal von gewitzter Naivität und zeichnet sich durch ziselierte Betrachtungen aus. Im vielteiligen Zyklus „Thomas“ hingegen tritt zur Liebe jene Bewunderung und Wertschätzung, die Brandt ausgewählten Männern mit dem Vornamen Thomas erweist, mit denen oder mit deren Werk ihn Vertrautheit verbindet, beginnend mit einem Gedicht zu Thomas Mann:

sein großes Hirn lag oft im Herz herum,
er schrieb die schönste Verunsicherung
nur manchmal in die Tagebücher.

Später folgt „Mein Vater, Thomas“, dem der Sohn ein berührendes Bekenntnisgedicht zueignet. Neben Schriftstellern wie Dylon Thomas oder Thomas Bernhard, dem Apostel Thomas und anderen ehrt Brandt auch die beiden Sportler Thomas Vanek und Thomas Häßler mit einer Gedichtminiatur. Im Zyklus „Frequenzen“ des letzten Kapitels mit dem Titel „Fade out“ setzt Brandt sich mit Musikern und Musikgruppen auseinander. Hier ist auch der von ihm geschätzte „Lou Reed“ zu finden, dem er schon in seinem Debütband das Gedicht „Für Lou Reed (died 27th October 2013)“ widmete, in dem es u.a. hieß:

Wer schreibt schon Gedichte,
              die Welt liebt Musik.
In ihr liegt etwas,
              das wir nicht ignorieren können.

Doch nicht nur die Welt, auch Brandt liebt Musik, möglicherweise spielt er sogar Gitarre oder mag den Klang dieses Instrument, denn das Wort Gitarre taucht in den Texten auf, auch das Triangel kommt als Motiv zu Gedichtehren. Mit dem Begriff „Frequenzen“ wiederum ist seine Hinwendung zu Literat*innen gut umfasst, wenn man damit ein Ein- und Mitschwingen auf ähnlicher Wellenlänge versteht. Brandt schätzt „Ode to a Nightingale“ von John Keats und verfasst in Anlehnung an Keats eine „Neue Ode für die fehlende Nachtigall“, schreibt ein „Wiegenlied für Joseph Brodsky“ oder setzt Bezüge zu Federico Garcia Lorca. Auch werden zahlreiche Zitate eingewoben, etwa Verse von Konstantin Kavafis.

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Es ist kein Konzeptband, doch gibt es ein Leitmotiv, das immer wieder aufgegriffen wird und als eines der thematischen roten Fädchen zudem Brandts Lyrikbände verbindet, nämlich das unaufhaltsame Vergehen der Zeit, die Zumutung unserer Sterblichkeit und damit die Unausweichlichkeit des eigenen Todes. Im Gedicht „Zweigschatten“ schreibt Brandt:

Nicht die große Schönheit des Nessun Dorma,
nicht die Ferngespräche mit meiner Mutter, meinem Vater,
selbst meine eigenen Gedichte nicht

 können mich trösten, weil es Tode gibt. Ein Ende.
 Dann ist immer zu wenig gesagt …

 Über die Kürze eines Menschenlebens
 hilft mir auch Shakespeares „Sturm“ nicht hinweg.

Das fünfte Kapitel, dem das Zitat entnommen ist, trägt den Titel „Elegien für Gestern und Übermorgen“. Nicht nur in diesem schimmert immer wieder Melancholie, Wehmut und Klage durch, manchmal nahe am Pathos, aber dieser Einwand wird von Brandt mitbedacht, wenn er einem Vers die Frage nachstellt: „Ist das pathetisch?“ Selten greift er zu verkitschten oder schiefen Bildern, etwa wenn das lyrische Ich gebadet wird „im Blut das aus den Wunden meiner Tränen tropft“. Andererseits weiß der Dichter, „Leichen werden wir früh genug sein“ und davor, im Heute, liegt das Leben. Er nimmt Zuflucht in der Sprache, ist überzeugt, „gegen das Nichts ist die Sprache immer noch gut“. Voll Leidenschaft und mit dem Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit schreibt er an gegen den Tod, weiß aber stets auch von Freude, Staunen, von Tröstungen und der Schönheit des Daseins zu erzählen, richtet seinen Blick auf „das ein Stück weit geglückte Universum!“

Doch sind es Hymnen und, wenn ja, welche und wozu?

Eine Hymne ist ein Lobgesang, eine Dichtung, die erhabene Gedanken und Anliegen ausdrückt und oft zu besonderen Anlässen rezitiert oder gesungen wird. Man könnte die schon erwähnte Ode als eine Art Hymne begreifen, auch die Thomasgedichte. Man müsste zuvor allerdings den Titel des Buchs hinterfragen, der als hingerotzt interpretierbar ist, als durchaus angriffig. Denn was bedeutet: „nicht die Hymnen, die ihr sucht“? Wer ist das angesprochene „ihr“? Wir Leserinnen? Die Rezensentinnen? Wem wird das Begehren von Hymnen unterstellt? Liest man Rezensionen von Brandts früheren Büchern, sieht man neben viel Lob durchaus kritische Anmerkungen, zuweilen geradezu paternalistische Einwände. Und deshalb scheint mir schlüssig, dass der Titel möglicherweise trotzig gemeint ist im Sinne von: „Seht her, ich, Timo Brandt, bin Dichter und schreibe in meiner Sprache, was ich will, und bilde mir meine eigene Dichterstimme. Wenn ihr stattdessen Hymnen wollt und Erwartungen hegt, dann ist es eure Sache.“

Leser*innen, die keine Hymnen erwarten, können jedenfalls im Buch fein mäandernden Denk- und Suchbewegungen folgen und sie nachvollziehen. Brandt zeigt sich darin trotz allem als ein Hoffender. Er sucht das Haltbare in der Welt und im Leben, trägt Spuren zusammen und verdichtet sie. Seine Sprache ist dabei variantenreich, zumeist eingängig, manchmal gezügelt und gebändigt, dann wieder ungestüm, überbordend, mal kühn, mal intim, zuweilen gefühlig. Lyrische Passagen wechseln mit prosaischen Notaten und Kommentierungen sowie gesprächsähnlichen Sentenzen – hier wünschte man sich bisweilen mehr Verdichtung und die eine oder andere Brechung. Dass Brandt nicht alles todernst sieht und Spaß hat beim Dichten, bezeugt manch leiser Witz oder ein Gedicht wie „Sprachkunst“, das gespickt ist mit aphoristischen Zuspitzungen und Nonsensversen. Beispielhaft seien erwähnt: „Eine Bratsche Noah, nach uns Sinnflut“, „Nietzsche war Gottes manifestierte Depression“ oder „wir skandinavieren das aus“. Und so ist der Tonfall der Gedichte sehr unterschiedlich, gewinnt eine Vielfalt an Farben nicht zuletzt durch Einsatz aus der Zeit gefallener Wendungen, von Versen in englischer Sprache und Neologismen, die im Buch so gleichberechtigt nebeneinander stehen wie ein Computerspiel, Zitate von Erasmus von Rotterdam und Heine oder die Zeilen eines Rocksongs.

Timo Brandt: nicht die Hymnen, die ihr sucht. Gedichte. edition offenes feld, Dortmund 2020. 136 Seiten. Euro 17,-

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