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Camelot-Tintagoel. Traum und Wirklichkeit

Camelot-Tintagoel. Traum und Wirklichkeit

Stefan Schmitzer liest den Gedichtband Das Mädchen Parzival von Thomas Ballhausen


Es gibt in Thomas Ballhausens Gedichtband „Das Mädchen Parzival“ eine „behauptete“ oder, sagen wir, äußerliche Struktur, die sich in den Kapitelüberschriften – „Karbon, Kartografie“, „Postantike“, „Das Mädchen Parzival“, „Genealogie“, „Instabile Elemente“ –, den Fotografien Chris Sauppers und über die basalen Eigenschafen der einzelnen Gedichte vermittelt. Beginnen wir damit, diese nachzuzeichnen:

Der erste Abschnitt, „Karbon, Kartografie“, trägt im Namen den Anspruch, das in weiterer Folge zu bespielende Feld zu umreißen und seine features zu datieren. Die Gedichte selbst sind dann kurze, verrätselte Liebestexte, denen das lyrische Ich, das Du-Objekt und der (je gegenwärtig) unerreichte Sehnsuchtszustand „Wir“ gemeinsam ist … aha! – „Minne“, Säkularmystik, als Ursprung von Lyrik,  also zumindest der nun folgenden Lyrik … es gehe um den Abgrund zwischen verabsolutierter Liebe und ihren notwendig zu relativierenden Ausdrucksarten …

Abschnitt zwei, „Postantike“: klar, oder? – Nichts Neues seit Homer. Oder explizierter: Es bekomme die Problemstellung der Liebesmystik, der Abgrund zwischen erleben und sagen, eine Lösung verordnet, nämlich das Fortwirken der „klassischen“ Mythen und Tropen, mitsamt den Eigendynamiken, die so ein gesellschaftlich geteilter Bildvorrat haben kann.

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Die Texte unter diesem Rubrum behandeln selbstredend antike Stoffe, bis auf den ersten, und der heißt „Mein Leben als Hai“ und verfällt somit der Assoziation mit all den naheliegenden vorzeitlichen Verwandlungstropen. Das Du ist weiterhin präsent (zweimal im Nominativ, einmal im Dativ, einmal als Possessivpronomen), tritt aber als Thema zurück hinter Dinge in der Welt, also in der dritten Person.

Der titelgebende Abschnitt, „Das Mädchen Parzival“, umfasst ein einzelnes Langgedicht, das sich über fünfundzwanzig fünfzeilige Strophen zieht, und liefert uns schon im Titel zwei programmatische Informationen: (a) Genderswap! (b) Nicht Wagner, sondern Wolfram; nicht Weihfestspiel, sondern Standes- und Realgeschichte; (sagen wir:) nicht Ostern, sondern Pfingsten – nicht „das Wunder“, sondern „die Kommunikation des Wunders“. Wenn das Kürzestepos eine Art fröhliches Update zu dem Ritterroman des Eschenbachers sein soll, dann vergleichbar, sagen wir, einem Jazz-Trio-Arrangement nach dem Vorbild eines Power-Metal-Albums.

Teil vier heißt „Genealogie“ und schreibt zwei Ortsgeschichten – „Nach Camelot“ und „Unweit Tintagel“ – wobei Camelot den ideologischen Sitz von Macht markiert, und Tintagel das überwunden Geglaubte, die Massenträgheit der blöden Wirtschaftsprosa … dort Schein, hier Sein; dort Königssitz, hier Handelshafen; Gold und Zinn. „Nach Camelot“ führt uns ein atemloser, zweigeteilter Monolog betreffend Väter, Söhne und Herrschaft; „unweit Tintagel“ geht es dagegen, zauberisch, um das Fliegen (und wir fragen: …von Flugzeugen? Vögeln? Zauberern-als-Vögeln? Piloten?)

Der letzte Teil, „Instabile Elemente“, umfasst zwar mehr als einen Text, aber nur einen Zwischentitel: „Die Atlanten stützen das Gebälk“. Nämlich das Gebälk „der Welt“, können wir uns denken, also: Hier gehe es nun um die, welche das alles schultern müsste, was Ballhausen bis hierher gesagt hat … bzw. alles das, wovon seine Subjekte eben handeln; „Minne“ , oder „Die Geschichte der Liebe im Mythos“, oder „…in der Landschaft Britanniens als Traumzeit“. Atlanten stützen das Gebälk: Wie die Verdrängungsenergie im (lyrischen) Ich waltet, so haben die Staaten Ausgaben für ihre Polizeiapparate. Oder ihre Tafelrunden.

Soweit die, siehe ganz oben, „behauptete Struktur“ von „Das Mädchen Parzival“: Wir bereisen verschiedene historische und Erlebnis-Schichten, betreffend die Rezeption eines gemeinsamen Stoffes – Grundkenntnisse der Leserin werden belohnt, aber (dankenswerterweise) nicht vorausgesetzt: Ballhausens Neuinterpretation(en) der Story vom Narrenritter.

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Nun lässt sich jedes einzelne Gedicht natürlich auch ganz für sich lesen, unabhängig von seinem Ort im großen Ganzen; doch die (anscheinend) überdeterminierte Gesamtstruktur lenkt zumindest mich von allem dem ab, was z. B. in den beiden „Genealogie“-Texten des vierten Abschnitts wirklich passiert. Ich musste mich nachgerade zwingen, die Gedichte einzeln zu lesen, und nicht Zeile für Zeile immer zuerst als „Emanation“ einer Position im Kraftfeld wahrzunehmen. Das ist schade, zumal, da ich nicht sicher bin, welches die genaue Ursache dieser Wirkung beim Lesen, dieser notorischen Abgelenktheit darstellt. Andererseits bedeutet diese leichte Ratlosigkeit auch, dass ich Ballhausens „Parzival“-Extravaganz wieder lesen werde. Bald.

Thomas Ballhausen: Das Mädchen Parzival. Limbus, Innsbruck – Wien, 2020, 96 Seiten, Euro 15,-

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