Helmut Neundlinger über ein Gedicht von Christian Loidl
ALLE FLÄCHEN SIND WEISS, Wien, wo rot grau ist, verschwunden. der einzige vogel und flug heißt winzigkeit, gewirbel, weite. unversehens hat die unterhaltung dichte ränder. der blick reicht nicht mehr durch die hand in das gewoge aus genetischem erinnern. die augen in den knochen schließen sich. die sätze sitzen verschanzt wieder im jade-verfälschungsamt. wozu wutschreie wachkitzeln, wenn der schnee verschwenderisch ein langes wachsein aufdeckt
Im Labyrinth des Imaginären
Im Anfang: tabula rasa. Der Raum bloß eine Fläche, die Farben abwesend. Die Stadt: ein Eigenname, großgeschrieben, nur um gleich wieder verschluckt zu werden. Für eine Apokalypse ist das zu wenig, für ein abstraktes Bild vielleicht schon zu viel. Eine Übermalung („wo rot grau ist“)? Oder einfach nur: eine Stadtlandschaft im Schnee?
Immerhin: ein Vogel, einziges Lebewesen am Horizont, gleichgesetzt mit seiner Bewegung („vogel und flug“), als wäre er ein Unternehmen. Willkommen bei „vogel und flug“, Ihrem Reisebegleiter ins Unbekannte! Die Bewegung setzt sich fort, weiter ins Unscheinbare, Unbekannte, Unbestimmte („winzigkeit, gewirbel, weite“). Der poetische Raum öffnet sich, um beschrieben zu werden.
Was eben noch weit war, zieht sich flugs zusammen, an den Rändern zunächst, die sich unversehens verdichten und den Blick aus der Weite des Vogelflugs zurückholen in den Infinitesimalbereich des Genetischen. Das Erinnern, der alte Affe im Genick, an dem schon Nietzsches Zarathustra zu Boden gezogen wurde, das „schwerste Schwergewicht“, das zu überwinden erst den neuen Menschen macht … Im „gewoge“ hallt das „gewirbel“ aus der kosmischen Weite wider. „Turbulenz im Unendlichen“ nannte das der französische Dichter Henri Michaux, dessen drogeninduzierte innere Reisen dem Dichter Christian Loidl zuweilen hilfreiche Wegweiser auf dem Weg durch die Labyrinthe des Imaginären waren. Auf engstem Raum entfaltet sich in dieser Strophe ein Schwebe-Stillstand, oszillierend zwischen Pathos und Distanz.
Und es wäre kein echter Loidl ohne die stets mitschwingende schalkhafte Ironie gegenüber jeglichen Formen der Institutionalisierung. Die Sätze (des Gedichts?) finden sich in einem Einschluss, dessen Freiwilligkeit aus den Zeilen des Gedichts nicht eindeutig („verschanzt wieder“) hervorgeht: im „jade-verfälschungsamt“, eine der zahlreichen poetischen Verballhornungen allzu amtsschimmeliger Vergesellschaftungstendenzen. Vielleicht ein Nachhall von Loidls redlichen, schließlich aber gescheiterten Bemühungen, ein guter (Co-)Direktor der „schule für dichtung“ zu sein?
Zum Schluss: das Loslassen, das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf die Gegenwart, die Anwesenheit der Natur als kosmischem Geist, als alles durchdringendes „wachsein“. Vom horror vacui ins Schneeweiß der Überfülle, Vogelflug inklusive.
Christian Loidl: „alle flächen sind weißt“, in: farnblüte. edition selene, 1996. Wiederabgedruckt in: Ch. L.: Gesammelte Gedichte, (Hg. von Eva Lavric). Klever Verlag, 2011, S. 131