Daniela Chana liest den neuen Gedichtband von Margret Kreidl
In ihrem neuen Gedichtband Schlüssel zum Offenen, der im Frühjahr bei der Edition Korrespondenzen erschien, rückt Margret Kreidl zwei Elemente in den Fokus, die in der Literatur viel zu oft vernachlässigt werden: Fröhlichkeit und Verspieltheit. Auf leichtfüßige Art gelingt es der Autorin, zahlreiche Akteure und Ereignisse des Zeitgeschehens zu kommentieren und auf einer Meta-Ebene das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und deren Beschränkung zu reflektieren.
Wer das hübsche, elegant gemachte Büchlein aufschlägt, findet sich in einem Spiel wieder. Die Regeln scheinen auf den ersten Blick simpel: Jedes Gedicht muss aus sieben Zeilen bestehen, deren jeweils erste Buchstaben von oben nach unten gelesen das Wort „Gedicht“ ergeben – in der Literaturwissenschaft gibt es dafür den Begriff „Akrostichon“ bzw. „Leistengedicht“.
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Der erste Text des Bandes fungiert sozusagen als Spielanleitung, in der das Muster besonders deutlich demonstriert wird, durch eine Großschreibung der sieben zentralen Buchstaben, um die sich fortan alles dreht – dies erklärt auch den zunächst paradox anmutenden Titel „Schlüssel zum Offenen“, denn es ist keine schwere, mühevolle Entschlüsselungsarbeit, die dem Publikum auferlegt wird, sondern ein klares, eingängiges Konzept, das zu Beginn unmissverständlich geoffenbart wird. Womöglich ist sogar eine allgemeinere Aussage zulässig: Gedichte regen grundsätzlich zum Entschlüsseln an und sind gleichzeitig offen im Sinne eines „offenen Endes“, also nicht erschöpfend determiniert, sodass selbst nach umfassender Interpretationsarbeit meist noch Raum für ein Rätsel bleibt. Darüber hinaus verweist der Titel auf das Spannungsverhältnis zwischen Öffnen und Schließen, das gerade in der Situation des Lockdowns aktuell wurde.
Kreidls Gedichte sind deshalb so raffiniert, weil sie zwei Ebenen zugleich ansprechen: Zum einen können die Texte als Kommentar zur Kunstform „Gedicht“ gelesen werden. Schließlich war das Erscheinungsbild der Lyrik im Laufe der Jahrhunderte zahlreichen historischen Moden unterworfen: Mal waren gebundene Sprache und ein strenges Versmaß im Trend, dann wieder sollte die Kunst von allen Zwängen frei sein, ohne Reime, ohne vorgegebene Rhythmen, ohne Silbenzählen. Kreidl spielt mit dieser Formstrenge, indem sie ihre eigenen Regeln schafft.
Die zweite Bedeutungsebene geht über die Ästhetik hinaus und kann gleichsam als Kommentar zur aktuellen Krise verstanden werden: Welche Folgen hat es, wenn Freiheit eingeschränkt wird? Die erstaunliche Erkenntnis, die dabei zwischen den Zeilen immer wieder deutlich wird, ist, dass gerade das Auferlegen von Regeln zur Entfaltung von etwas Neuem, sonst Verborgenem führen kann. Wäre die Autorin wohl jemals dazu gekommen, so viele Worte mit dem in der deutschen Sprache seltenen Anfangsbuchstaben C zu verwenden, wenn die Gesetzmäßigkeit des Spiels es nicht verlangt hätte?
Kreidl zeigt, dass die Möglichkeiten der Entfaltung auch noch innerhalb strenger Formen zahlreich sein können. So finden im Rahmen der selbstgesetzten Grenzen die unterschiedlichsten Rhythmen und Experimente Platz, einmal gar ein Lautgedicht sowie manches Mal leichtfüßige Binnenreime (S.47):
Grünstreifen für Frühreife. Es wird ausgeteilt – stopp! Dein Zimmer ist ein Pop-up-Shop.
Hochaktuell illustrieren die Gedichte schließlich die Situation des Lockdowns. Das lyrische Ich ist häufig zuhause und konsumiert Medien, sieht Fernsehshows, reflektiert über die Nachrichten und Zeitungsmeldungen sowie die Lektüre der Werke anderer Dichter auf dem Küchentisch, während das Essen auf dem Herd steht. Dazwischen tauchen Erinnerungen an Reisen aus früheren Jahren sowie an die Kindheit auf, es wird gebacken und gekocht, geschrieben, geträumt, genäht. Ebenjene Einblicke in den Alltag machen diese Gedichte so lebensnah, etwa wenn die Sprecherin belustigt auf das Vokabular und die Wertvorstellungen beliebter Castingshows Bezug nimmt (46):
Geschenke heißen Goodies. Mutti ist ein Girl. Wir sind Schwestern. Das Smartphone ist ein Spiegel. Ich habe immer ein Foto für dich.
Wer bisher dachte, keinen Sinn für Wortspiele und formale Experimente in der Lyrik zu haben, könnte bei Schlüssel zum Offenen seine Meinung ändern! Kreidl zeigt, dass Technik nicht im Widerspruch zu Gefühl und Realitätsnähe stehen muss. Selten wird man einen Gedichtband finden, der so viel Spaß macht wie dieser.
Margret Kreidl: Schlüssel zum Offenen. Gedichte. Wien, Edition Korrespondenzen, 2021. 114 Seiten, Euro 18,-