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Längen von Buchstaben

Längen von Buchstaben

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Stefan Schmitzer liest den von Günter Vallaster herausgegebenen Sammelband Schriftlinien


Der von Günter Vallaster herausgegebene Sammelband schriftlinien.transmediale poesie ist ein Dokumentationsband zu einem Komplex an Veranstaltungen und Workshops zwischen 2017 und 2021 – vier Leseabenden der Grazer Autorinnen Autorenversammlung im Literaturhaus Wien unter dem gleichen Titel wie das vorliegende Buch, zwei Workshops des Berufsverbands Österreichischer SchreibpädagogInnen, überschrieben „Text und Bild / Text als Bild“ sowie einer mehrgliedrigen Veranstaltung (mit Workshops, Lesungen usw.) in Sankt Petersburg.

Jedes der vier Lesungskapitel wird eröffnet von einer Variante des folgenden Programmtexts, jeweils mit anderen Akzenten und Formulierungen.

Schriftlinien, ein Ausdruck aus der Typografie, bestimmen die
Längen von Buchstaben. Übertragen auf die Poesie ist es von
Interesse, diese Linien auszuloten, sie zu überschreiten bzw.
individuell zu ziehen. schriftlinien versammelt somit literarische
Positionen, die sich vom Text zum Bild oder Bild zum Text
bewegen und Lyrik oder Prosa spannungsvoll mit Bildern
verbinden, sei es grafisch, fotografisch, filmisch oder über Sound.
Dadurch entstehen transmediale Räume, die auf vielfältige Weise
poetisch gestaltet und beschritten werden.

Coverbild: Thomas Havlik, Asemic Writing
© Autor und Edition ch

… und damit ist das Programm der beworbenen Abende mit je vier bis sechs Beteiligten so klar umrissen wie das des vorliegenden Buchs. Nach Zählung des Rezensenten versammelt es die Arbeiten von 43 Beiträger*innen; von ganz geradlinigen Texten, die den Bildcharakter von Schrift vor allem thematisch behandeln, geht die Bandbreite über verschiedene Operationen der Gegenüberstellung von Text und Bild sowie über die Bildwerdung des Texts bzw. Textwerdung des Bildes zu solchen Beiträgen, die nicht in Buchform zu dokumentieren sind (Videos, Installationen, Klangperformances).

In der Natur der (Aufmerksamkeitsökonomie der) Buchform liegt freilich, dass es die eher am Fließtext orientierten Beiträge gegenüber den eher bildlichen begünstigt, denen die Ausstellungssituation, oder ein größeres Druckformat, mehr entgegengekommen wäre: Andres Zámboris titellose Kurzgeschichte mit dem einen angeschlossenen Öl(?)bild leuchtet, bloß des Textblocks wegen, unmittelbarer ein als die vier Fotos vom Beitrag Sophie Reyers unter dem Titel „monstermärchen“, die sich uns auch dann schwerer erschließen, wenn uns eine in als Alufolien-Fee kostümierte Reyer mit einem Umhängeschild STERNEN STIRNE (im doppelten Sinne: also auch beim Erschließen) entgegenkommt.

Manches, etwa die Instagrammlyrik von Rhea Krčmářová, kann der Rezensent nur zur Kenntnis nehmen – aha; davon hat man schon gehört, und jetzt sieht man’s auch mal, so schaut das also aus – ohne schon ein differenzierteres Urteil formen zu können … Wobei – und hierin ist der Eintrag gerade dieser Autorin symptomatisch für ein Problem, das mit der Materialfülle kommt: Es wäre natürlich schon interessant fürs genauere Lesen, ob z. B. zu diesem diskussionsbedürftigen, aber mit Verve artikulierten Text „Fragen einer lesenden Arbeiterin“ von ihr –

(…)

Wirst du dir meinen Namen merken wollen?
Die selbstgetauften Silben, die dir noch weniger bedeuten als ich?
Woran wirst du dich erinnern wollen?
An mein Schenkelzittern, mein spiegelndes Seufzen, mein erfrorenes Geschlecht?

(…)

– auch ein Instagramm-Eintrag gehört, oder mehrere, wie die im Band abgedruckten? Es würde die Klarstellung in dieser Hinsicht, etwa über Abschnitts-Untergliederungen, die Lektüre substanziell verändern – und das gilt nicht nur für den Beitrag dieser Autorin.

Ein klar in den Grenzen seiner Struktur ruhendes Format wie der (sagen wir:) Theoriecomic von Ilse Kilic hat es da viel leichter als selbst so etwas vermeintlich Simples wie Brigitta Höplers ganzseitige Collagen – je nur ein Bild, mit zwei bis drei hineinmontierten Zeilen Text, und stets bieten die Gebilde eine knackige, prägnante Kippfigur zwischen ihren beiden Dimensionen. Doch der Beitrag ist überschrieben mit „aus: (W)ORTE FOTONOTIZEN“, und schon weiß ich nicht mehr: Lese ich fünf einzelne Bildgedichte, die zwar, wie das „aus:“ in der Überschrift sagt, einer umfangreicheren Sammlung angehören, aber die doch je in sich selbst ruhen, wie der Leseeindruck mir versichert? Oder bin ich gefordert, über diese fünf Seiten eine größere Story zu rekonstruieren?

See Also

Es sind Fragen dieser Art, die das „schriftlinien“-Buch mir aufgibt (wohlverstanden: dem Herausgeber sind diese Unklarheiten, als Eigenschaften des Materials selbst, schwerlich anzulasten). Nicht die medientheoretischen Fragen, die Vallaster vielleicht beim Zusammenstellen seiner Veranstaltungen vorgeschwebt haben mögen („Wo und wie fallen das Sinnliche und das Bedeutungstragenden am Zeichen in eins?“), sondern die praktischen („Zu welchem Bild gehört dieser Vermerk hier? Korrespondieren diese beiden Bildtafeln, oder ist das wieder ein neuer Beitrag?“).

Die Funktion des Buchs, das die Vielfalt jenes konkreten Veranstaltungskontexts dokumentieren soll, beeinträchtigen solche Fragen ohnehin mitnichten. Eher reizen sie im Gegenteil zu Recherche und weitergehenden Lektüren. Vielleicht, wenn wir im Insta-Account von Rhea Krčmářová weit genug nach hinten scrollen … ?

Günter Vallaster (Hg.): Schriftlinien. Transmediale Poesie. edition ch, Wien 2021, 144 Seiten, Euro 15,-

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