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Milchshake ohne Zierkirsche

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Reinhard Lechner liest American apocalypse von Isabella Feimer und Manfred Poor


Wer American apocalypse in die Hand nimmt, kann natürlich zuerst einmal an Apocalypse Now denken, den Anti-Vietnam-Film von Francis Ford Coppola nach Vorlage von Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness. Der rot übers Cover gekritzelte Titel ähnelt emblematisch dem auf dem Filmplakat. Und dann hat die Welt auch noch gerade eine US-Präsidentschaft hinter sich gebracht, die einen schnell entsprechend assoziieren lässt. Doch das lyrische, mit einfühlsamen Fotografien bebilderte Reisetagebuch reiht sich nicht ein in Untergangswerke zur amerikanischen Seele. Es handelt sich Seite für Seite vielmehr um ein unaufgeregtes Wiederenthüllen. Das Bilderalbum vom amerikanischen Traum, es wird wieder hervorgekramt und durchgeblättert, Schauplätzte und ihre Bedeutungen haben sich verändert, Eindrücke müssen erneuert werden, etwa der aus Las Vegas:

wir haben ein schäbiges Zimmer
dunkel ist es
kein Glamour
der falschen Tatsachen entspricht
das Wasser im Pool ist dreckig
eingesperrt hinter einem rostigen Zaun

© Copyright Limbus

Die zugehörige Fotografie zeigt am oberen Bildrand eine Leuchtreklame mit „Open 24 hours“, überdacht von einer herzförmigen Silhouette, hinterlegt durch eine astrale Atmosphäre. Die Farben rot und blau stechen hervor, das restliche Bild ist dunkel, womit ein starker Symbolcharakter entsteht. 
Ein Road Trip durch die USA, von Los Angeles nach Alaska bildet den kartierten wie den inneren Maßstab von Isabella Feimers und Manfred Poors Reisetagebuch. Gut hundert Einträge sind es geworden, „Gedichte & Fotografien“ von bekannten und unbekannteren Orten der Staaten, Mexiko und Kanada. Jeder aufbereitet durch eine poetische Notiz der Autorin und ein Bild des Fotografen, oftmals begegnen einem Naturmotive oder Szenen des American Way of Life. Die Einträge sind großteils mit dem Ort der Entstehung unterlegt, der erste stammt aus Inglewood, der finale aus Paxson. Dazwischen arbeiten sich Feimer und Poor zwar ab am amerikanischen Traum, viele Schauplätze sind bekannt – die Route 66, Ground Zero in N.Y, South Beach in Miami, die Mojave-Wüste in Kalifornien. Sie kommen aber nie als Plattitüden von großer Freiheit und Grenzenlosigkeit daher. Die beiden sehen genau hin, ihre Instrumente, Stift und Kamera, sind auch kalibriert für die Brüche in den Landschaften, den Symbolen, den Menschen:

keine Traumwelt
kein amerikanischer Traum
nein Rückstände
nein Nadelspitzen auf der Haut
die sich nicht mehr schützen kann
abgefuckter Industriecharme
ausgeschabte Vergangenheit
nein Geschichte leer
wie die bunten Luftballons
leere Endlosschleifen Coney Island-Achterbahn

Die hinterlegte Fotografie zeigt ein rotes Über Kopf-Exit-Schild auf Coney Island, darüber steht handschriftlich „trapped in time/we are drifting“ beigefügt, auf dem Foto dominieren Grautöne.

Dazwischen tauchen im Band immer wieder popkulturelle Zitate auf. Oftmals finden wir sie von den Ikonen der amerikanischen Beat-Generation, etwa von Diane DiPrima, Patti Smith, Andy Warhol und Lawrence Ferlinghetti, auch werden Kunstschaffende zitiert, die im jeweiligen Ort des American Dream geboren wurden. Die Zitate rücken die ihnen folgenden Einträge in ein ankündigendes Licht, tragen lose den Charakter vom kommenden Kapitel, sie sind eine Art Begrüßungsstraßenschilder. So werden die Einträge zu den trockenen, kargen Wüstenlandschaften New Mexicos etwa von Georgia O’Keeffe eröffnet, „I decided to start anew, to strip away what I had been taught“. Stets auch kombiniert mit einer Fotografie von Poor, oft nur ergänzt von einem handgeschriebenen Wortschnipsel von Feimer, ergeben solche Zitate ebenfalls in sich geschlossene poetische Gebilde:

Wonderland

I flew too near to the sun
And my wax wings fell off.
Lawrence Ferlinghetti

Die hinterlegte Fotografie zeigt den Ausschnitt eines in zuckergusspinkes Licht getauchten Bananenwaldes, es handelt sich um die Installation einer Bananenschaukel im Museum of Ice Cream von San Francisco.

Unterwegs sein, Abdrücken & Aufschreiben

Gedicht und Fotografie sind beides ästhetische Medien, die auf der poetologischen und epistemologischen Grundlage von Bild-Sprache funktionieren, für die vorliegende Thematik bieten sie damit viele überschneidende Gestaltungstechniken. Kombinieren und Wiedererkennen, aber auch Kontrastieren und Irritieren, auf solche Zweischritte setzen Feimer und Poor, wenn sie Vers und Motiv in ihre Beiträge montieren, miteinander in Kontakt bringen. Dabei profitieren die beiden vom Unterwegs sein, von ihrer Bildungsreise, die als Grand Tour in einer literarischen Tradition steht, im Fall der Staaten mit Jack Kerouacs On the road oder mit Jon Krakauers Into the wild. Ich breche auf, ich will mit eigenen Augen sehen, wie es um die Welt steht, ich beobachte und reflektiere. Was bekommen wir unter den abgesteckten Rahmenbedingungen vom Künstlerduo?

Die lyrischen Texte von Feimer können für sich alleine stehen, ebenso gilt das mit Manfred Poors Fotografien. Dies veranschaulicht folgender Eintrag zum Denali Highway in Paxson, Alaska, wenn Feimer schreibt:

hier ist das andere Amerika
angesiedelt an Durchzugsorten
abgeschnitten vom Rest der Welt
der Himmel ist eine träge Masse
sie drückt auf den toten Körper unterhalb

von zu viel Regen aufgedunsener Körper
war starr und tot
als er noch lebendig war
hat sich immer nur in eine Richtung
in Richtung Hoffnungssuche fortbewegt

Die freien Verse bei Feimer korrespondieren durch ihre Assonanzen miteinander („das andere Amerika“ und „eine träge Masse“), die Metaphernsprache bedient sich Motive, die Bewegungen erzeugen („angesiedelt an Durchzugsorten“ und „in Richtung Hoffnungssuche fortbewegt“) bzw. Entfernungen vermessen („Himmel“ und „Körper unterhalb“), die bedichteten Phänomene sind hier überwiegend naturwissenschaftlich-mechanischer Ausprägung („Ort“, „Masse“, „Körper“ und „Richtung“), sie werden schließlich mittels Innerlichkeit, von einer Empfindung kontrastiert („Hoffnung“). Poors Fotografie im Eintrag zeigt ein Wellblechobjekt, vielleicht eine Versorgungshütte oder einen Lagercontainer. Am linken oberen Bildrand ist der Schriftzug „DUST“ auf das Objekt montiert, am rechten unteren Bildrand wächst ein wenig Grün aus dem Schotter. Doch gerade durch Text-Bild-Kombinationen wie diese entstehen die Assoziationsräume, die die Lesenden bannen. „Dust“ wird so zum Gedichttitel, das darin enthaltene „U.S.“ bietet sich dem Text unaufdringlich an, das Gelb des Blechobjekts kann Wüstenödnis assoziieren lassen. Spannend bleibt die Frage, ob für American apocalypse von der Dichterin und dem Fotografen für die Motivwahl bereit unterwegs gezielt zusammengearbeitet wurde, und wenn ja in welcher Form. 

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Was wir wiederkennen & was neu ist

Wird der amerikanische Traum bedichtet, so kann und braucht nicht von vorne begonnen werden. Die Symbolik von Wolkenkratzern, Highways und fetten Autos sind längst Grundmotive des westlichen Kulturgedächtnisses. Dadurch kann man bei einigen Einträgen den Eindruck bekommen, das hat man bereits gelesen, bereits gesehen. Vielleicht ist daher etwa der Eintrag zur ghost town Eureka, einer ehemaligen Minenstadt in Utah chancenlos, den Lesenden noch allzu viel Neues zu bieten, wenn es zu Schwarz-Weiß-Fotografien von verlassenen Häusern und von Habseligkeiten heißt „no nothing/not even ghots are hiding in this town.“

Umso bemerkenswerter bleibt, dass es Autorin und Fotograf gelingt, den Kern ihres Buches unbeschadet zu überbringen: einen gegenwärtigen, glaubhaften Ab- und Eindruck der amerikanischen Seele in vielen Belichtungen und Schattierungen. Als Karte und als Landschaft zugleich, so eröffnen sie uns ihre frische, unverbrauchte Sprach- und Motivwelt. Wir Lesenden dürfen Entdecker werden, fahren, verweilen, weiterfahren; „we continue driving“.

Isabella Feimer/Manfred Poor: American apocalypse. Limbus, Innsbruck/Wien 2021. 176 Seiten. Euro 18,-

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