Kirstin Breitenfellner liest Ich hab so Angst, dass die Chinesen kommen von Andreas Okopenko
Ein Einzelgänger auf dem lyrischen Feld ist jemand, der nicht auf den Pfaden gerade vorherrschender Moden wandelt, sondern seiner eigenen Wege geht. Oft sind Einzelgänger weniger bekannt als die Stars einer lyrischen Strömung. Dafür kann man sie ohne Voraussetzungen lesen, sozusagen von Mensch zu Mensch. Dichtung findet nie in einem unhistorischen Raum statt, aber sie ist ein radikalerer Ausdruck der Individualität als andere literarische Formen.
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Andreas Okopenko, geboren 1930 in Kosice in der damaligen Tschechoslowakei, gestorben 2010 in Wien, war befreundet mit Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, auf Wikipedia wird er gemeinsam mit diesen als Wegbereiter der Wiener Gruppe gezählt, ohne zu dieser zu gehören – „wie auch nicht zur konkreten Poesie“, heißt es dort weiter.
Andreas Okopenkos Lyrik war längere Zeit nicht lieferbar, der Verlag Jung und Jung macht sie nun in einem Band mit ausgewählten Gedichten zugänglich, ausgewählt von dem österreichischen Autor Daniel Wisser, der bei seinen Recherchen im Nachlass auch vier unbekannte Texte aus der Sammlung „Ich hab so Angst, daß die Chinesen kommen“ fand, die dem Band den Titel geben.
Andreas Okopenko, erfährt man aus Wissers Nachwort, studierte als junger Mann Chemie und arbeitete später in der Buchhaltung einer Papierfabrik, daraus resultiert eine Vertrautheit mit den Naturwissenschaften und deren rationalistischem Denken, die Okopenkos Lyrik des Öfteren an die Neue Sachlichkeit der Zwischenkriegszeit erinnern lässt. Sein „Lexikonroman“ von 1998 gilt als Vorreiter des Hypertextes. 1951 bis 1954 gab Okopenko seine eigene Zeitschrift publikationen heraus. Später arbeitete er für die Kulturzeitschrift Neue Wege, wo er mit 19 Jahren seine ersten Gedichte veröffentlicht hatte. 1969 wagte er auf Anraten Ernst Jandls den Sprung in die unsichere Existenz des freien Schriftstellers.
Das Konkrete und der magische Augenblick, von Okopenko auch Fluidum genannt, machen das Zentrum seiner Lyrik aus. Das zeigt sich besonders in den Gedichten der 1950er und 1960er Jahre in diesem Band. Die Jahreszeiten dienen Okopenko als Ausgangspunkt für impressionistisch anmutende Texte, aber der soziale Hintergrund wird dadurch nie unscharf. So kommt es, dass man bisweilen gleichzeitig an Rainer Maria Rilke oder Georg Trakl und Erich Kästner oder den sozialen Realismus eines Bertold Brecht gemahnt wird, wie etwa in dem wunderbaren Langgedicht „7. Mai“, einem der beeindruckendsten Texte des Bandes.
Das „Der 17. Juli“ etwa gehört eher zur ersteren Kategorie, eine berückende Ode an einen Sommerabend:
An uns vorbei meckt eine Ziege. Kaum von der Mauer, schon verhallt. Und wieder Stille. Oder Wald. Du überlegst.
Hier endet die kurze Zeile, es folgt eine Leerzeile und ein Einzug, die das Nachdenken und Innehalten des „du überlegst“ plastisch werden lassen, und es geht weiter:
Du überlegst. Und Da scholl mit einem Male Rüge Auf einen einsam heimgeführten Hund; Nach etwas Fernem jaulte er und bellte.
Reportagehafter geht es in „Konsumfiliale“ zu, das wie folgt beginnt:
Das dicke Fräulein Gerti mit dem ewigen Augenkatarrh War heute starr, Als ihr ein Heizer, während er sich Magermilch einfüllen ließ, seine Liebe erklärte.
Okopenkos Protagonisten in den erzählerischen Gedichten sind die sogenannten kleinen Leute und ihr (Arbeits-)Alltag. Auch die Naturwissenschaften, Fabriken, Zeitungslektüre – alles hat Platz in diesem großzügigen Kosmos, der sich zu einem Sittenbild von Wien und Umgebung verdichtet oder vielmehr ausweitet.
Okopenko ist ein Sprachspieler, aber in seiner Ausformung als Schütze, der die Wirklichkeit mit möglichst wenigen Wörtern dingfest machen möchte. Dabei scheut er es auch nicht, die Grammatik an seine Zwecke anzupassen, etwa wie in der Zeile „Ich rebelle auf gegen die eingebundene Schule“.
„ (…) der Sinn des Lebens / Ist mit keinem der bekannten Kunstgriffe des Lehrfaches Logik / Einzufangen“, heißt es in „Die blaue Dissertation“. Dazu passt, dass Okopenko der widerspenstigen und widersprüchlichen Realität auch mit Ironie und Sarkasmus sowie einem launigen Bänkelsängerton beizukommen versucht.
Manches Mal verfällt er sogar ins Kalauern, wie in „Das Leben von Tulln“, wo sich Karnickel auf Wickel reimt und Schüttelreime verselbstständigen:
Sag, ernährt das Kantinchen den Pächter? Hörst du auch oft Kaninchengelächter
heißt es da, und eine Strophe weiter
Wenn ein fahlblauer Pfahlbauer Kalauer hört und ein Schlauer die Arealmauer kehrt.
Das muss man mögen.
Ebenso die wiederentdeckten Texte aus „Ich hab so Angst, daß die Chinesen kommen“. Der Satz entpuppt sich glücklicherweise als ein Vorurteil der Zeit, in der die Angst vor der „gelben Gefahr“ verbreitet wurde, die hier eine Büroangestellte daran hindert, ihr Leben zu leben. Die Gedichte „Der Computer“ „Der Fernseher“ und „Die Werbetexterin“ wirken in ihrer Konsumkritik ein bisschen naiv und, was bei Lyrik selten geschieht, auch altbacken. Vielleicht hatte es einen Grund, dass Okopenko sie zu Lebzeiten nicht veröffentlichen wollte.
Was ist ein Einzelgänger? Ein Einzelgänger nimmt sich nicht so wichtig, dass er sich an die Spitze einer Strömung setzt, ja, sich ihr nicht einmal zurechnen möchte. Das Sympathische an diesem Dichter liegt in seiner Beiläufigkeit, seiner Nonchalance und, ja, auch in seiner nicht vorhandenen Angst vor dem Amüsement.
(…) über all dem liegt, über all das fliegt der Tag 7. Mai eines nicht sehr bedeutenden Jahres eines sich selbst viel bedeutenden Autors, aber eines bedeutenden Jahres vieler andrer und an und für sich.
Ein Einzelgänger ist jemand, der sich selbst mehr bedeutet als seine eigene Zugehörigkeit. Und den man genau deswegen liebt, weil er sich so schwer einordnen und zu Ende denken lässt – der „unaustrinkbar“ ist, so wie das Ende des Langgedichts den 7. Mai nennt:
fliegt und liegt, liegt und lügt unaustrinkbar / der 7. Mai.
Andreas Okopenko: Ich hab so Angst, daß die Chinesen kommen. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniel Wisser. Jung und Jung, Salzburg 2020. 144 Seiten. Euro 20,-