Peter Clar liest das Gedicht „De atra bile“ von Ann Cotten
De atra bile A terrible claw has hit me es wohnt in der fototapete frag mich nicht I don’t know what it is aber es ist atrum ein schwarzes great es gibt weniger vokabel at the edge of cigarettes nett nur mehr furchtbar war der huf an der schläfe die kante von etwas less denn what I’ve ever been vornüber wenn ich sie zumache ein schlüssel zu was ich nicht wissen will at four at night in a dark rain lümmeln morgens reste davon am himmel und lachen die kinder die blätter platt ich glaub der natur kein einziges wort grab the grit from the pflastersteine regne terrible pures entsetzen meiner beiden zimmer seit meine nägel alle sämtlichen verschollen aufgequollen mit weißlichem aufschlag sind zu schrauben geworden in unverständlicher nacht
Produktive Uneindeutigkeit
Viel einfacher, prägnanter, treffender und gleichzeitig poetischer kann ‚Melancholie‘, ‚atra bilis‘, die schwarze Galle, wurde lange Zeit als Ursache selbiger angesehen,[1] nicht definiert werden, als in der Zusammenführung des Titels, der ersten Zeile und der letzten drei Worte des Gedichts De atra bile von Ann Cotten: „De atra bile / A terrible claw has hit me […] in unverständlicher nacht“. Doch dieses ‚Einfache‘ wird unterbrochen (?), verstärkt (?), hinausgezögert (?) durch, ja, durch was?
Und viel direkter kann der Einstieg in einen Text auch nicht sein als in diesem Gedicht. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man die erste Zeile oder den Titel als Beginn ansieht – der Titel, schreibt Jacques Derrida, ist sowohl Teil des Textes als auch nicht, „ließe er sich dem Korpus, das er betitelt, inkorporieren, gehörte er ihm einfach als eines seiner internen Elemente, eines seiner Stücke an, so verlöre er Rolle und Wert eines Titels. Wäre er andererseits dem Korpus vollkommen äußerlich und abgetrennt von ihm […] so wäre es kein Titel mehr.“[2] Mit „A terrible claw has hit me“ hebt Ann Cotten an (oder eben mit „De atra bile“) und schon steht man als Leser*in mitten in…, ja, inmitten wessen?
Es ist eine Assoziationskette, die folgt, oder, vielleicht besser, ein Assoziationsgeflecht (eine Textur, ein Text, im wörtlichsten Sinne), scheinbar hingeworfene Bilder und Sätze, die doch zugleich hochartifiziell miteinander verwoben sind/scheinen und uns Leser*innen in eine Zwischenwelt mitnehmen oder uns die Zwischenwelt, in der wir vielleicht immer schon (auch/ manchmal) sind, bewusst zu machen. „A terrible claw has hit me“, heißt es da, als handle es sich um ein Tier, welches in der „fototapete“ wohne. Die Klaue, die nicht nur eine Kralle, die sich in den Nägeln der drittletzten Zeile wiederholen wird, sondern auch das Zehenendglied von Paarhufern benennt, wird im – auf den ersten Blick harmloseren – „huf“, das Äquivalent bei Unpaarhufern, wieder aufgenommen. Die Idee, dass die unbekannte Bedrohung („a terrible claw has hit me“; „der huf an der schläfe“) animalischer Natur ist wird jedoch sofort wieder relativiert, „aber es ist / atrum ein schwarzes gerät“. Aber was genau ist es? „I don’t know“, antwortet das lyrische Ich, dass aber gar nicht gefragt wurde oder sich die (von wem gestellte?) Frage im selben Atemzug verbietet. Weiß das Ich wirklich nichts, oder fehlen nur die Vokabel „at the edge of cigarettes“, an der Kippe der Kippen sozusagen (oder überinterpretiere ich an dieser Stelle, male ich mir das aus)? Mit den „cigarettes“ durch einen unreinen Reim verbunden, ist das Wörtchen „nett“ der darauffolgenden Zeile: „nett nur mehr furchtbar“. Nett kann dabei als ‚kleine Schwester von scheiße‘, wie man so (un-)schön sagt, gelesen werden, zugleich aber im Sinne von ‚net‘, von nicht. Irgendetwas ist also nicht nur mehr furchtbar ist mehr als das, ist vielleicht produktiv machend, einen Text erzeugend? Zugleich kann das „furchtbar“ auf den folgenden Vers bezogen werden – „furchtbar / war der huf an der schläfe“ – und man ist versucht zu fragen wie es denn sonst sein solle. Allgemein lässt die konsequente Kleinschreibung des Gedichts, die fehlende Punktation, das Verwenden verschiedener Sprachen (Deutsch, Englisch, Latein, Französisch) Doppeldeutigen nicht nur zu, sondern erzeugt sie, stellt die Sprache in ihrer Uneindeutigkeit, ihrer Unverständlichkeit, ihrer Unentschlüsselbarkeit aus. Nur momenthaft blitzt so etwas wie Erkenntnis (wessen, des Dämons/Tiers/Geräts in der Mauer – oder doch allgemeiner?) auf, „at four at night in a dark rain“ (nach zu vielen Zigaretten?) wenn auch nicht unbedingt jene Erkenntnis, die man sich erhofft „ein schlüssel zu was ich nicht / wissen will“ und schon gar nicht von Dauer „lümmeln morgen reste davon am himmel“.
Es ist diese Uneindeutigkeit, dieses Dasein im Dazwischen (zwischen Wahrheiten, zwischen Lebewesen und Maschine, zwischen Sprachen), die den Text bestimmt, die Melancholie erzeugt. Das Lachen der Kinder im Wirbel der Herbstblätter ist ein ebenso schönes wie unglaubwürdiges Bild („ich glaub der natur kein einziges wort“), das gleich auch als „platt“ denunziert wird, durch einen, weitere Volte des Gedichts, äußerst platten Wortwitz (Blatt-platt). Und wer ist es, der den Staub, den Splitt von den Pflastersteinen klaubt bzw. klauben soll („grab the grid from the pflastersteine“), das lyrische Ich, das lyrische Du oder der Regen, der in „regne“ als Imperativ angedeutet scheint, sich dann aber (auch) als französischer Ausdruck für Herrschaft („regne terrible“) entpuppt, die zum puren Entsetzen (wobei „pures“ auch als französisches Vokabel durchginge) führt oder diesem gleichgesetzt wird? Und auch die scheinbare Opposition ‚Lebewesen‘ vs. ‚Objekt‘ wird am Ende wieder aufgemacht (wobei sie nie geschlossen war) und zugleich erneut dekonstruiert, wenn „meine nägel“, zurückweisend auf die Klauen, die Hufe, „zu schrauben geworden sind in unverständlicher nacht“.
Diese Unverständlichkeit, diese Unsicherheit ist es, die Angst macht, die traurig macht, die melancholisch macht, die aber – davon ausgeschlossen und bedungen zugleich – ebenso produktiv macht. Denn ausgelöst von der Uneindeutigkeit, von den Nichtwissen, von den „wenige[n] vokabel[n]“ die das Unerklärbare zu erklären in der Lage wären, entsteht dieser Text erst, im Nicht-Beschreiben-Können, in der/durch die Sprachlosigkeit entsteht ein sprachliches Etwas, ein Kunstwerk, ein Gedicht: Dieses erklärt nichts (und erklärt doch alles: „De atra bile / A terrible claw has hit me […] in unverständlicher nacht“) doch darum geht es nicht. Oder genau darum.
[1] Vgl. u. a. Paul Demont: „Der antike Melancholiebegriff: von der Krankheit zum Temperament.“ In: Jean Clair (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst; zu Ehren von Raymond Klibansky. Ostfildern-Ruit 2005,
[2] Jacques Derrida: „Titel noch zu bestimmen“, in: Ders.: Gestade, Wien: Passagen 1994, S. 219-244, S. 225.
Ann Cotten: „De atra bile“, in: dieselbe: Florida Räume. Suhrkamp-Verlag 2010. S.58