Christa Nebenführ liest decke weg von Stephan Eibel
Der Titel decke weg lässt Interpretationsspielraum. Ist es eine Feststellung, eine Aufforderung, eine Anordnung? Ist dem Verfasser eine – schützende – Decke abhanden gekommen oder zieht er sie für die Lesenden weg, um heraus zu finden, was sich darunter verbirgt? Oder zieht er gar seinen Leser*innen ihre Decke weg? Ließe sich diese Frage eindeutig entscheiden, würde der lyrische Horizont verfehlt. Immer wieder scheint der Dichter nach Klarheit zu ringen und doch die Ambiguität der Phänomene nicht leugnen zu können.
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„will i mi unter da deckn vasteckn“ ist der einzige Hinweis in dem Band, der sich explizit auf eine Decke bezieht. Gilt diese abschließende Zeile nur der Seite, auf der sie steht oder bezieht sie sich auf die vorhergehende, die mit dem Satz endet:
da goldpreis, da süwapreis da müchreis san ma wurscht fiarchten tu i mi vor der nächstn nocht wenn mutti nach atem ringt
Die Rezensentin würde schwören, dass die beiden Seiten zusammengehören, aber der Dichter lässt ihr die Wahl. Dennoch sind die Gedichte nicht enigmatisch und schon gar nicht hermetisch. Sie spiegeln handfeste Gegebenheiten wider, vom Kirschen essen über den eigenen Herzinfarkt bis zur Frage, wer für die Zerstörung der Welt – nicht – verantwortlich sein könnte. Dieses Verfahren legt die Widersprüchlichkeiten aller Deutungen frei und hinterfragt sie, ohne sich dogmatisch für die eine oder andere ins Zeug zu legen.
besitzbaum er gehört ganz allein mir spuck ich auf seinen stamm ritz mit meinem feidl irgendan schas rein geh mit der axt auf ihn los alles okay gesetzteskonform mein baum dabei is er über dreihundert jahr älta als i
Beiläufig, ohne Pathos, wird die Frage nach der Berechtigung von Besitzverhältnissen mit jener nach dem aggressiven Umgang der Menschen mit der Natur zusammengeführt.
Stephan Eibel war von Beginn an und ist bis heute eine kritische Stimme. Legendär seine Auseinandersetzung (im doppelten Wortsinn) mit dem ORF. Der 1953 in Eisenerz in der Steiermark geborene Autor leitete 1976 für den NÖ Rundfunk die Autorensendereihe „Literatur im Untergrund“. Anfang der 1990er Jahre verlangte er im Falle der Sendung eines seiner Texte im ORF, seiner Biographie einen Zusatz anzufügen, der unter anderem auf die ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft des damaligen ORF-Generalintendanten verwies. Es ist wenig überraschend, dass auf Grund dieser „Bedingung“ über einen längeren Zeitraum darauf verzichtet wurde, weiterhin Beiträge des Autors zu senden. Mittlerweile sind sie wieder zu hören. Ob Stephan Eibel von seiner Bedingung Abstand genommen hat, ob es zu einer Einigung kam, wie auch immer diese Auseinandersetzung gelöst wurde, ist mir nicht bekannt. Aber selbstverständlich ging es nicht darum, etwas durchzusetzen, einem Mythos wie David gegen Goliath nachzuhängen oder ähnliches, sondern darum, die Ambiguität von Begriffen, in diesem Fall vor allem des Begriffes „Zensur“ und „Freiheit“ auszustellen.
Seine institutionelle Bildung eignete sich der Autor nach einer kaufmännischen Lehre und der Arbeit als Lohnverrechner im zweiten Bildungsweg an. Matura in einer Abendschule in Wien, Studium der Pädagogik, Philosophie und Soziologie, wo er bei Roland Girtler promovierte.
Eine nicht unbedeutende Facette im literarischen Werk des Aufbegehrers und In-Frage-Stellers ist der Raum, den seine Ehefrau Bettina Eibel-Steiner und die beiden Töchter Hannah und Marlene einnehmen. Im patriarchalen Gestus des Genies sind insbesondere Künstlerinnen bisweilen bemüht, den privaten Aspekt der Familie außen vor zu lassen, um nicht als nebenbei schreibende Mutti abgekanzelt zu werden. (Warum klingt „Mutti“ so pejorativ?)
Gewähren Sie mir einen kleinen Abstecher um die Methodik des Ausschlusses zu illustrieren:
Zu dieser Zeit arbeitete mein Vater an seinem Buch über sich selbst, wissend, dass es sein letztes Buch sein würde. Ich war sehr neugierig auf das Manuskript, das ich aber erst gedruckt, als fertiges Buch, zu lesen bekam. Das Erstaunen war nicht klein – seine sieben Kinder kamen in dem niedergeschriebenen Leben nicht vor.1
Das Zitat stammt vom Sohn des Psychoanalytikers und Schriftstellers Alexander Mitscherlich.
Im Gegensatz dazu umkreist Stephan Eibel sein privates Beziehungsgeflecht auch literarisch. Das Cover seines Lyrikbandes Gedichte zum Nachbeten (2007) wurde von einer seiner Töchter gestaltet, genauso wie das des Romanzeros sofort verhaften (2008). In unter einem himmel (2016) adressiert er ein Gedicht „an meine Töchter“, und im vorliegenden Band gilt der Blick des Achtundsechzigjährigen in die ferne Zukunft nicht umwelt- und gesellschaftspolitischen Utopien oder Dystopien, sondern den privat vertrauten Menschen, die dann vielleicht noch leben werden.
in fünfundfünfzig jahren wird marlene fünf Jahre älter sein als ich heute und hannah neun bettina wird finnisch lernen
So hartnäckig Stephan Eibel die Gegenwart beackert und die Zukunft im Blick hält, so sparsam geht er mit den Erinnerungen an seine Herkunft um. Er ist nicht wie beispielsweise Josef Winkler, der sich die Engherzigkeit und Übermächtigkeit des Vaters von der Seele und in die Hirne und Herzen der Leser*innen schrieb. Den Verweis auf seine „Herkunft“ und damit einen beträchtlichen Teil seiner Sozialisation unternahm er Mitte der 1990er Jahre, indem er seinen bürgerlichen Namen um den Zusatz „Erzberg“ erweiterte. Bei dem vorliegenden Lyrikband „decke weg“ hat er ihn wieder gestrichen. Auslöser war zwar das Verhalten der meisten Eisenerzer während der Flüchtlingswelle der Jahre 2015/2016, aber in einem aktuellen Interview mit dem Literaturkritiker Erich Klein für die Nr 5/2021 des Periodikums ‚Anzeiger’ des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, bekannte er:
„Bei Qualtinger als ‚Herr Karl’ war meine Reaktion: Das ist nicht Steiermark. Steiermark ist ärger.“ Im Interview ist auch vom ständigen Verdroschen-werden mit einem Riemen die Rede, das in der Bergarbeiter-Siedlung üblich war. Stephan Eibel ist vermutlich der meist gelesene österreichische Gegenwartslyriker, hatte er doch über mehrere Jahre in österreichischen Tageszeitungen regelmäßige Gedichtveröffentlichungen. Vertragsvereinbarungen wie diese will er in Zukunft nicht mehr eingehen, um sich nicht mehr zu verbiegen und sich das eine oder andere Wort untersagen zu lassen. Eine Gelassenheit, die durch die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit nach zwei Herzinfarkten verstärkt wurde. Auch diese wird im Band „decke weg“ auf ihre Ambiguität abgeklopft:
... liaba als da tod is ma deis sterm no allewoil
1 Thomas Mitscherlich: Vergangene zeiten – Variationen von Erinnerung. In Feigl, Susanne und Elisabeth Pablé: Väter unser. Reflexionen von Töchtern und Söhnen. Edition S, Wien 1988
Stephan Eibel: decke weg. Gedichte. Limbus Verlag, Wien / Innsbruck 2021. 96 Seiten. Euro 15,-