Monika Vasik liest balance balance von Elfriede Gerstl und Herbert J. Wimmer
Anglizismen haben in den letzten Jahrzehnten wie selbstverständlich Eingang in die deutsche Sprache gefunden. Der Titel des vorliegenden Buchs „balance balance“ ist jedoch nicht englischen Ursprungs, wie man annehmen könnte, sondern wird französisch ausgesprochen und ist der Titel eines Gedichts, das von Elfriede Gerstl gelesen auf der wunderbaren Seite der Lyrikline nachgehört werden kann.
Hier spricht die Wiener Dichterin in ihrem leisen, beiläufigen Parlandoton von Untiefen
den sogenannten wirklichen abgründen von denen man wegschaut auf kleine käfrige buchstaben oder sonst was
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Es sind Abgründe, die nicht verschwinden, wenn Gerstl weitab von Wien „in der sonne von rom“ sitzt, sondern Teil ihres Lebens bleiben, Abgründe, die in zwei kurzen Prosatexten, die dem Buch vorangestellt sind, erahnbar werden. Da ist zum einen die Verfolgung des jüdischen Kindes und seiner Mutter durch das nationalsozialistische Terrorregime, das jahrelange, lebensrettende Verstecken und damit die Unmöglichkeit eines unbelasteten Aufwachsens, was ihr weiteres Leben färbte. Der erste Text „Danksagung und Erinnerung“ ist datiert mit 19. April 2001. Er wendet sich an ein Publikum und beginnt mit der kraftvollen Bezeugung „Ich stehe heute hier“, veröffentlicht fast 60 Jahre nach der Vertreibung aus der Wohnung in der Neulinggasse und ihrem Überleben in wechselnden Verstecken in Wien.
Ich danke nun für selbstlose, tätige Hilfe, die keinerlei Gegenleistung erwarten konnte, folgenden Personen:
Es war die Hilfe von sogenannten kleinen Leuten, „allesamt armen Menschen“, die wenig besaßen, sich mit ihrem Handeln dem Naziterror widersetzten und selbst in Gefahr brachten, wenn sie den Versteckten Essen, Kleidung oder ein Stück Seife brachten.
Zum anderen thematisiert Gerstl ihre prekäre Existenz als Schriftstellerin im zweiten Text des Bands. Elfriede Gerstl wurde 1932 in Wien geboren, starb hier 2009 und hat, bis auf wenige Jahre, in denen sie sich vorwiegend in Berlin aufhielt (1963-1971), in Österreichs Hauptstadt ihr Leben verbracht, schreibend, lebendig „in meinem zusammengeschusterten / sprachhäusl“. Abgedruckt ist ihre Dankesrede zum Heimrad-Bäcker-Preis 2007. Wohl hatte die sprachkritische Schriftstellerin und Feministin bereits anfangs der 1950er Jahre erste Gedichte, 1962 ihren ersten Lyrikband „Gesellschaftsspiele mit mir“ veröffentlicht und arbeitete unter anderem als freie Mitarbeiterin der Arbeiter Zeitung, doch ihre finanzielle Lage und die Wiener Wohnsituation waren trist, weshalb sie 1963 nach Deutschland zog. In den Berliner Jahren erarbeitete sie ihren Roman spielräume und hat lange vergeblich nach einem Verlag gesucht. „heimrad hat mich damals gerettet“, sagte die Dichterin anlässlich der Preisverleihung und fügte hinzu,
dass der wunderbare, sensible autor und kompetente verleger heimrad bäcker, als er meinen vielerorts abgelehnten montageroman spielräume 1977 zu drucken sich entschieden hatte, mich aus tiefster depression und hoffnungslosigkeit gerettet hat.
Dennoch nicht abzustürzen, sondern die Balance zu bewahren über all den Zumutungen, war Lebensthema, in der Verdoppelung „balance balance“ eine Art Mantra, sich in Schwebe zu halten
über gar nicht unwahrscheinlichen Abstürzen
Balance wird auch in diesem auf berührende Weise geglückten Buch gewahrt, kein Gleichgewicht zwischen bloß zwei Waagschalen, sondern gleich zwischen mehreren. Die Verlagshomepage erzählt die märchenhafte Entstehungsgeschichte „dieser speziellen Sammlung“. Geplant war je ein eigenständiger Band mit Gedichtübersetzungen von Elfriede Gerstl und Herbert J. Wimmer ins Spanische, was sich nicht realisieren ließ. Die Auswahl für den vorliegenden zweisprachigen Band traf die kubanische Übersetzerin Olga Sánchez Guevara, die Ende des letzten Jahrtausends erstmals Gedichte von Gerstl ins Spanische übersetzt hatte. Ziel war es, mit den Texten die „geteilte Lebens- und Schreibensgeschichte widerzuspiegeln“. Formal ist das Buch in drei Kapitel unterteilt. Kapitel 1 „Elfriede“ enthält nach den schon erwähnten Prosatexten ausgewählte Gedichte Gerstls, etliche davon datiert, einige gewidmet, die das Leben beleuchten, Schreiben, Krankheit und Tod thematisieren und durchzogen sind von leiser Melancholie, Lakonie und abgeklärtem Witz.
gedichte brauchen eine prise surrealismus was verschobenes verschrobenes – einen stich ins spinnerte.
Kapitel 2 „vierhändig“, das etwas kurz geraten ist, zeigt wenige Gemeinschaftsarbeiten wie einige der bekannten Textpostkarten. Kapitel 3 „Herbert“ enthält Texte des Schriftstellers Herbert J. Wimmer, mit dem die Dichterin von 1973 bis zu ihrem Tod eine produktive Lebensfreundschaft verband.
Auch das 3. Kapitel beginnt mit einem Prosatext, datiert mit 12.9.2017, der eine Ausstellung im Wiener Literaturhaus im ersten Halbjahr 2015 Revue passieren lässt, für die Wimmer zwei Vitrinen mit Objekten gestaltete,
die sowohl mit meinem leben wie mit dem leben von ELFRIEDE GERSTL eine Verbindung hatten und weiterhin haben.
Etwa eine Flasche mit Glasperlen, die Gerstl durch alle Verstecke begleitete, und ihr Poesiealbum, oder in Wimmers Vitrine u.a. eine Spielzeuglokomotive des Dichters Ernst Kein (1928-1985). Herbert J. Wimmer verwendet wie Gerstl die Kleinschreibung, dass er ihren Namen in Versalien schreibt, lässt diesen herausstechen und bezeugt die Bedeutung, die Gerstl für sein Leben und Schreiben hatte. Wimmer, der im Kontext jener experimentellen Literatur Österreichs steht, die ihren Ursprung im Umkreis der Avantgarde der Wiener Gruppe hatte, bewegt sich als Autor zwischen den literarischen Genres, schreibt sowohl Lyrik und Gedichtartigkeiten, als auch Romane, Hörspiele und theoretische Schriften. Auch er wurde übrigens mit dem Heimrad-Bäckerpreis geehrt, nämlich 2009, im Todesjahr Gerstls. Die Gedichte dieses Bands sind Texte eines Hinterbliebenen, umkreisen die Leerstelle, geben Verlust und Trauer Raum, wollen „begreifen analysieren erklären“.
was weiß ich schon was wird aus mir ohne uns
Es sind Gedichte, die um das Wesen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kreisen, Erinnerungen sowie ihre Unzuverlässigkeit thematisieren. Im Gedicht „immer ein anfang“ heißt es:
immer ein anfang ist jede erinnerung ... immer ein anfang ist die bruchlinie der erinnerung wenn wir erfahren wen wir verloren haben und anfangen
Wimmers Gedicht „la pivellina“ wiederum schließt inhaltlich an Gerstls Danksagung an jene Menschen an, die Zivilcourage zeigten und bereit waren, sie und ihre Mutter während des Kriegs zu verstecken:
etwas tun weil jemand also man selbst es tun muss weil es sonst keiner tut sagte schon elfriede dass ihre grossmutter immer gesagt hatte gelegenheiten muss man nicht suchen sie liegen allen vor augen zu füssen also tu was unverzüglich selbstverständlich ohne grosse worte hilfe kommt nie zu früh
Dass Trauer durchlebt werden muss, ihren eigenen Rhythmus des Ab- und Ausklingens hat, thematisiert das letzte Gedicht dieses Bands, das einen „anfang“ zeigt, das Wahrnehmen der Freude, des Glücks nach der Trauer:
freudiger vorgang elfriede-gerstl-memo die freude über dein leben durchstrahlt heute die trauer über deinen tod was trauer ist vergeht freude bleibt suceso alegre en memoria de elfriede gerstl la alegría por tu vida ilumina hoy el luto por tu muerte lo que es luto pasa la alegría permanece
Elfriede Gerstl, Herbert J. Wimmer: balance balance. Reihe Lyrik der Gegenwart Nr. 94. Übersetzung ins Spanische von Olga Sánchez Guevara. edition art science, St. Wolfgang 2020. 208 Seiten. Euro 15,-