Now Reading
Der vierten Poesiegalerie erster Tag

Der vierten Poesiegalerie erster Tag

Österreich ist auch ein Kaspressknödl

Von Stefan Schmitzer


Achtzehn Uhr. Der Raum ist noch leer. Statt der Stühle bloß die Bodenmarkierungen.

Jetzt gibt es eine Vernissage. Bitte die Masken tragen. Es wird eine Performance geben.

Die Performance wird wohl die angekündigte mit dem Titel fünf minuten in die zukunft von Jörg Piringer sein und ein bissl verspätet anfangen. Inzwischen unterhalten sich drei Kolleg*innen (Vallaster, Jotakin und Krcmarova) über die Möglichkeiten der Instagrampoesie angesichts der Ausstellung – oder ist das am End‘ schon der Beginn der Performance im Geiste von Augusto Boals unsichtbarem Theater? Rhea Krcmarova erzählt Interessierten über ihren Beitrag zur „transmedialen poesiegalerie. digital und analog“, kuratiert von Günter Vallaster

… der 18:25 Uhr, nach der Eröffnung durch Udo Kawasser, das inzwischen reichlicher anwesende Publikum durch die Exponate führt.

Ich hatte schon ein Motto, aber das habe ich den Beiträgern erst nachher gesagt.

Jörg Piringer bei seiner Eröffnungperformance © Copyright Poesiegalerie

Es habe sich, trotzdem das Thema nicht sofort draufhin zwingt, die Typographie als gemeinsamer Gegenstand ergeben. Zu den Exponaten: Rhea Krcmarovas erwähnte Stickarbeit „Menuett (für U.)“, zeigt Nähen-als-Schreiben. Ein Verspiktogramm von Jofo und Zsuka Nagy bildet gewissermaßen übersetzte Graffititypografie ab. Richard Kitta aus Kosice, „back to panic“, eine Arbeit mit Architekturbezug. Heike Fiedler, „n_chts“, ein Bildgedicht. In die dritte Dimension bewegen sich die Lettern, die Jörg Piringer direkt an der Wand angebracht hat. Die Arbeit von Zuzana Husárová und Mária Čorejová heißt „dick picks“, provokante Posterpoesie. Von Anatol Knotek stammt eine typografische Transformation vom Wort „beautiful“ zu „awful“, und von Wolfgang Helmhart schließlich, mit „Über dem See weht der Wind“, eine Auseinandersetzung mit automatischer Übersetzung … Einen Spieltisch – ein Spiel, auf einem Stehtisch vorbereitet – von „united queendoms“ gibt es auch; der wird in den nächsten Tagen, spätestens am Samstagabend, live zu bespielen sein. (Red.: Leider wird die Performance wegen plötzlicher Erkrankung von Königin Dystopia ausfallen müssen.)

Und damit, 18:40 Uhr, Überleitung zum Rausstellen der Sessel, nebst lebhaftem Zwischenapplaus bei Vallasters Erwähnung des Sacher-Masoch-Preises fürs Projekt – und dann fängt auch schon Jörg Piringer mit seiner Performance an: Verzerrte Stimmen. Vorahnungen von Audio-Loops. Wie es im Inneren eines automatischen Sprechaktgeräts sich anfühlen muss …

Hello World. Klammer Auf. Strichpunkt. Fang endlich an … (…) Hallo Welt. Hallo hallo Welt. Wer fällt auf. Wer fällt auf die Schnauze auf? … Kommt mir das nur so vor, oder nähert sich Piringers Arbeit über die Jahre unvermuteterweise, still by way of Aleatorik, doch traditionellen Konzepten von Bedeutung und Textaussage an? In der anschließenden Pause fällt auf, der Raum ist nun vollbesetzt, und die Corona-Maßnahmen sind zu beachten.

19:13 Uhr, und anscheinend noch immer kein Rücktritt in der Bundespolitik (weil ja alles beim Stehen am Buffet aufs Handy schielt). Es geht jedenfalls mit Cornelia Travnicek und Gerhard Ruiss weiter, einmoderiert von Monika Vasik.Travnicek eröffnet den Reigen der „eigentlichen“ Lesungen als Übersetzerin des Lyrikbandes „7 Arien für die Küche“ des chinesischen Autors Wa Lan … Der sich seinerseits mit deutschsprachiger Lyrik beschäftigt – das erste vorgelesene Gedicht bezieht sich auf Celan, Wissen um den Hallraum Totnauberg schwingt mit. Auch danach ist diese Dichtung der deutschsprachigen hermetischen Poesie nahe, aber zugleich moderner (direkter „politisch“) und scheinexotisch, weil als Bewegung auf einem uns nicht notwendig vetrauten kulturellen Gedächtnishorizont zu denken. Man wüsste gern, wie viele Verwandlungen das Sprachspiel durchgemacht hat, das bei Travnicek als

die Anbiedermaier

erscheint.

Um halb acht: (Kurz weiterhin nicht zurückgetreten, Demo vor der ÖVP-Zentrale), weist Monika Vasik auf die laufende Ausstellung im Literaturhaus zum allerersten österreichischen Schriftstellerkongress hin, um den alten Haudegen Gerhard Ruiss und sein neues Buch – „lieber, liebste, liebes, liebstes.“ – einzuleiten. Ruiss‘ Gedichte funktionieren als mehr oder weniger paradoxe Iterationen zu Alltagsformulierungen, Nähe und Distanz betreffend. Heißt das schon Aphorismus oder doch noch Taglied? … Und launigerweise schließt Ruiss, anlässlich der politischen Lage anderswo in Wien, mit einem 22 Jahre alten à propos aus seiner Werkstatt:

Der Kanzler kommt als Erlöser.
Der Installateur kommt als Installateur.

Der Kanzler geht als Kanzler.
Der Installateur geht als Erlöser.

Zwanzig Uhr.

Nun Laure Gauthier mit ihrem Übersetzer, manuskripte-Herausgeber Andreas Unterweger – wobei nicht Gauthier französisch, Unterweger deutsch liest, sondern beide mit sozusagen verteilten Stimmen auf Deutsch aus „kaspar aus stein“. Handelt es sich bei diesen Texten um hermetische, um Naturlyrik? Es gibt eine Auslassung in der Syntax der vorgelesenen Zeilen, und den Verweis auf eine konstante biographische Wirklichkeit als Ausgangspunkt. Am leichtesten ist das Ganze zu denken als eine Auseinandersetzung mit den französisch-deutschen Sprachgrenzen, Zivilisations-, Geschichtsgrenzen innerhalb der individuellen Selbstsetzung (oder ist das bloß die Vorliebe des Rezensenten für Kontext?). Eine schöne Metapher kommt vor, ungefähr aus dem Gedächtnis zitiert: Jemand zeichnet Bilder nach, die ihn/sie gelehrt werden, und weiß nicht, was er/sie da in Wahrheit tut – schreiben. Noch weniger versteht er/sie den Gehalt des Geschriebenen.

Nun tritt Paul Schömann auf, ein  junger Autor, der kürzlich in den manuskripten debütiert hat. Kurze, dezent rhythmische Texte, Schlaglichter auf Alltage; Schaglichter im Wortsinn, denn Arten des Lichteinfalls sind häufig Teil der inszenierten Welt – sie und architektonische Details. Eine vom Textsubjekt abgesehen menschenleere, weite Welt unter einem weiten Himmel, dargestellt in künstlich gemachten Stillleben. Wir dürfen gespannt sein, was der junge Dichter mit diesem, seinem distinkt kameraartigen Blick noch alles einfangen wird.

20:40 Uhr: Monika Vasik moderiert nach einer Lüftungspause Isabella Feimer ein, die uns auf einen Roadtrip durch die Amerikas einlädt. Erneut poetisch-Filmisches, aber diesmal traumartiger zu denken: Feimers

Engel / verwandeln sich in Kolibris

Das liegt freilich auch einfach dran, dass der in Frage stehende Text Hollywood schildert; der nächste dann handelt von Las Vegas, dann einer über diesen oder jenen Highway, über die Mojavewüste: zeitgenössische Gedichte wie Postkarten. Wir könnten kritisch von Klischees reden, aber das scheint der Punkt dieser Gedichte zu sein: eine Reise an Orte, die mit nachkriegskulturellen Klischees über und über überlagert sind, samt der Story dieser besonderen Weite Amerikas – und was macht eins dann in und mit der Wirklichkeit jener Orte? … (Schwierig wird das Konzept, wenn es neben den individuellen auch die gesellschaftlichen Wirklichkeiten der Gegenwart jener Orte zu meinen beginnt: Leitartikel in diesem Tonfall, so sexy sie klingen können, werden unterkomplex.)

Gegen neun Alexander Peer mit der sneak preview aus einem Buch, das am siebten Dezember verspätet bei Limbus erscheinen wird – eine eigentümliche Mischung aus literarischem Anspielungsreichtum, Weinkennerei und Nostalgie; vorgetragen mit einem ernsthaften Gestus, der anachronistisch wirken könnte:

Rostende Räder an Waldwegen (…)

Birgit Schwaner, 21:20 Uhr, 25 Minuten dem Programmplan hinterher, mit ihrem Buch „Jackls Mondflug“ und einem Podium-Porträtbändchen. Schwaners Listentexte leben vom Abgrund zwischen dem Vollständigkeitsanspruch von Listen – wo eine Liste, da ein System – und der Beliebigkeit der tatsächlichen Listeneinträge, die ein vorhandenes, aber (für uns) nicht verstehbares System unterstellen. So hören wir scheinhaft barocke Listen, betreffend beispielsweise „Typen von Bettlern“. Vergleichbare Verfahren wendet Schwaner dann auch auf reale Dokumentarbestände an, etwa Werkzeugkataloge des neunzehnten Jahrhunderts.

Nun, knapp dreiviertel zehn, Michaela Hinterleitner, die aus ihrem Buch „Der Räuber der Meere“ liest (und, wie sie sagt, auch das Magazin „Die Nestbeschmutzerin“ mithat). Sie bringt heiter gestimmte Schilderungsanarchie; den zunächst unspektakulär heimelig erscheinenden Gehalten steht eine augenscheinliche Formulierlust gegenüber, die uns alles Abgebildete geradezu exotisch macht – zuerst den Hinterhof in Ottakring, dann das Meer.

See Also

22:05 Uhr: Anmoderation Timo Brandt ein, „Nicht die Hymnen die ihr sucht“, und die Show ist nur noch zwanzig Minuten „hinten“ – wobei allerdings, tragischerweise, das Bier aus ist. Brandt liest Gedichte, haarscharf an der unmittelbaren Verstehbar-, Bedeutsamkeit vorbei; hermetisch, das auch, ja, aber es geht da nicht ums „nah am Schweigen Siedeln“, sondern den Spaß, zwischen dokumentarischem Sprechen und spielerischem Sprechen NICHT zu vermitteln:

Die Gedichte sind nicht wahr. 
Doch alles andere ist gelogen.

Rudolf Kraus, langjähriger Autor des Verlagshauses Hernals, liest aus seinem Podium-Porträtband. Sprachspiele, auf Verständlichbleiben durchwegs ausgerichtet, weniger unfreundlich gesagt: auf die Pointe. Das ist mitunter landschaftlich, mitunter durchaus aphoristisch-gesellschaftskritisch, kann auch beides zugleich sein; mitunter, wenn es introspektiv wird, werden die Pointen kinderbuchhaft phantastisch … interessant sind einige Stellen, wo Kraus auf das Erfüllen der selbstgesetzten Muster pfeift, und aber der Grundtenor der Ehrlichkeit aufrecht erhalten bleibt, der seine Texte durchzieht.

Dreiviertel Elf, Martin Kubaczek, „Die Süsze einer Frucht. Pflanzenikonen“. Die Lesung aus dem Band mit Texten um die Pflanzen-Scherenschnitte von Rosemarie Hebenstreit herum erfolgt mittels Projektion der Bilder an die Stirnwand des Raums. Kubaczeks Texte sind zugleich dokumentarisch und sinnlich, im Klang der Stimme des Autors desorientierend. Was gibt Nichts-als-die-Wirklichkeit an Poetischem her? … die Inszenierung entlegenen Vokabulars als Stilmittel, eingesetzt zur Abwechslung um des Klangs willen, also zur Verfremdung und nicht zwecks der Autorität des Lexikons. (Auch, sozusagen um die Hecke, wächst uns die Erinnerung an, dass es da neuere Diskussionen über die genaue Definition von nature writing gebe, in die sich Kubaczeks Arbeit, je nachdem, einschreiben könnte oder nicht.)

Christian Teissl – und jetzt ist es 23:00 Uhr – tritt an, um Werke von Alfred Gesswein zu präsentieren, die er als „literarischer Archäologe“ wiederentdeckt und herausgegeben hat. Diese erscheinen uns als literarische Zeitzeugnisse von ca. demjenigen Österreich, das Friedensreich Hundertwasser und den radikalökologischen Stephansplatzpropheten WaLuLiSo hervorgebracht hat. Scheinnaiv setzte Gesswein allerhand Pastorales gegen „den Beton“, mit genug Detailreichtum beiderseits der Demarkationslinie, um nicht ins bloß Didaktische abzudriften. Verse also von einiger Verve, die uns zugleich notwendig altvaterisch erscheinen müssen – Teissel trifft diese Doppeltheit genau.

… Zehn vor halb Zwölf. Schwunderscheinungen im Raum. Die Ränge zunächst geleert; ein Kommen und Gehen; Auftrittsapplaus für Thomas Ballhausen

der aus einem teilweise essayistischen, teilweise lyrischen Projekt vorträgt, ausgehend von einer prinzipiellen Öffnung des Himmels zum ganz Anderen, zu den Aliens hin, die uns samt unseren Verschrobenheiten hinwegverstrahlen könnten/sollten/wollten … ein  Projekt, dessen Name ich nicht rechtzeitig notiere (Auf Nachfrage handelt es sich um „Transient. Lyrical Essay“), und dessen physische Kopie ich auf dem Büchertisch grade nicht finde … Oder sind die Ansprechpartner des reflektierenden Subjekts im großen Jenseits nicht die Aliens, sondern die transhumanen (cyborgenen?) Intelligenzen einer sich selbst realisierenden Zukunft? Sind die bedrohlich? Freundlich? … Wir hören Anknüpfungspunkte an Ballhauses „Mädchen Parzifal„; und zwar dort, wo Leute in diesem wie in jenem Textkosmos in deutlich nichtverstandenen Weltgehegen unterwegs sind: einmal vor-, und einmal nachvernünftig.

Zuletzt Peter Clar und Markus Köhle, die aus zwei ihrer „Jahres“büchlein lesen – Korrespondenzspielvorlagen, die im Einzelnen so komplex wie für den Unterhaltungswert des kongenialen Vortrags egal sind: im Prinzip bekommen wir es mit dialogisch angeordneten Tagebuchfetzen zu tun, mit gezielt reichhaltigen, entlegenen Vokabularien und unter Zurückweisung der Möglichkeit von Reflexion angesichts der so viel interessanteren blanken Eindrücke! Der eine sitzt z. B. in Bad Ischl, der andere in Indien, das gleicht sich ab und an, da springt, für die Uhrzeit überraschend, der Schmäh.

Wenn das Projekt fertig sein wird, werden wir für jede Stunde des Jahres so etwas geschrieben haben.

Österreich ist auch ein Kaspressknödl.

Jetzt ist es Mitternacht. Tag 1 der poesiegalerie 2021 ist rum; war fein besucht.

Scroll To Top