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„… um zu hören, wie der Satz davonfliegt“

„… um zu hören, wie der Satz davonfliegt“

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Annalena Stabauer liest weiße Linien von Li Mollet


Bei Li Mollet begegnet man einer Literatur der leisen Töne. Einer Literatur, wie sie oft überhört wird, weil sie an entlegeneren Stellen und ohne betriebliches Getöse an die Öffentlichkeit findet. Ab 2003 erschienen Texte von Li Mollet in kleinen Schweizer Editionen ‒ es handelt sich durchwegs um Verlage mit Nähe zu bildender Kunst ‒, daneben in Zeitschriften und Anthologien, u.a. mehrfach in den in Wien herausgegebenen Zeitschriften Idiome und zeitzoo. weiße Linien ist nach und jemand winkt Li Mollets zweites Buch beim Ritter Verlag. Dazwischen erschien in der Basler Edition Mäd Book der Band Die Augen reiben. Fadenhaftung mit Pinselzeichnungen von Heinz Mollet.

© Copyright Ritter Verlag

Als „lyrique en prose“ hat Simon Aeberhard in seinem Artikel für das Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (115. Nlg, 3/2017) Li Mollets Texte charakterisiert. Ihr Interesse gilt der Betrachtung der Welt und des Daseins in ihr, nicht in den außergewöhnlichen, sondern in den tagtäglichen Erscheinungsformen. Georges Perecs Plädoyer für eine Hinwendung der Literatur zum Unscheinbaren, Alltäglichen, dem, was nun einmal den Großteil des Lebens ausmacht, kann einer hier in den Sinn kommen. Vom Gewöhnlichen sprechen, aber nicht mit den gewohnten Mitteln: Auch bei Mollet ist die Skepsis gegenüber der kohärenten, linearen Erzählung, die eine wohlgeordnete Welt suggeriert, spürbar groß. Stattdessen scheint sie ihre Texte auf Möglichkeitsformen zu richten: Wie lässt sich etwas in Sprache fassen, ohne der Welt von ihrer Potentialität zu nehmen?

Wenngleich manche Formstrukturen über die Jahre wieder aufgegriffen werden, stellt sich die Frage der Form für Li Mollet merklich bei jedem Schreibvorhaben neu. Gemeinsam ist den Texten, dass sie mehrfach ansetzen: dass sie mehrere Textstränge und/oder Blickpunkte nebeneinander stellen, ohne den Lesenden auszudeuten, wie die verschiedenen Ansätze sich zueinander verhalten. Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit sind bewusst gesetzte künstlerische Strategien. Simon Aeberhard weist darauf hin, dass Li Mollets Texte ausnahmslos im Präsens verfasst sind und sich vom Indikativ ausgehend immer wieder ins Konjunktivische öffnen. Das Präsens ist die Zeitform des Augenblicks, der Präsenz, die nichts bestimmt wissen muss von Vorher und Nachher.

Alles bisher Gesagte ist auch für weiße Linien gesagt. Der Text setzt zweifach an, in Versen und in Prosa. In Verse gesetzt sind kleine Szenen aus der Gegenwart von Josefine O. Die Szenen beschreiben einen Tageslauf, vom Aufwachen bis zum Zubettgehen. So beginnen Li Mollets weiße Linien und Josefine O.s Tag:

sie steigt aus dem Nachtkino
schwebt
zwischen da und dort
döst eine Weile
und möchte zurück
etwas schmerzt
etwas blieb ungelöst
etwas braucht ihre Stimme
wenn wir die Zeit
festhalten könnten
wenn wir sie nicht splitterten
etwas zieht Josefine O.s
Mundwinkel nach oben
aber was
die Augen schlitzweit geöffnet
es ist Tag
Josefine O. streckt sich
es ist Tag
aufstehen
weil es Tag ist

Eine sensible, stille Figur wird hier vorgestellt: Genau registriert sie das eigene Altern und die wachsende Distanz zur Gesellschaft, die eine äußere wie auch eine innere Distanz ist; sie hat mit dem Verlust des ihr nächsten Menschen umzugehen und mit Einsamkeit, aber: Sie ist nicht fertig mit der Welt, sie stellt sich selbst noch Fragen. Deren dringlichste: Was kann ich tun? Es ist die Frage nach den Möglichkeiten, die mit dem Lebensalter gewachsene Distanz zur Gesellschaft in etwas Produktives zu überführen und Teil gesellschaftlicher Veränderung zu sein.

In Josefine O.s Begebenheiten und Begegnungen eines Tages stellt Li Mollet Prosapassagen ein. Hier gibt es mehrere Figuren: ein kleines Mädchen, ein Mann, ein Ich und die „Frau mit leiser Stimme“. Auffallend ist ihrer aller Namenlosigkeit und auch Josefine O. hat keinen vollen Namen. Daraus folgt nicht, dass Li Mollets Figuren keine Individualität haben. Vielleicht soll ihnen im Gegenteil gerade Namenlosigkeit Individualität bewahren.

Die Passagen in Prosa bilden Sätze, die manches Mal Mikroszenen und kleine Dialoge der Figuren ergeben, dann wieder vordergründig unverbunden dastehen. Markant ist der unvermittelte Wechsel ins Konjunktivische und dass der Sprechakt immer präsent ist: „sage ich“, „sagt er“, „fragt das kleine Mädchen“. Es unterstreicht, dass es ein Zentrum nicht gibt, nicht die Zentralfigur und nicht die zentrale Aussage, von der ausgehend sich alles herleiten und erklären ließe.

In diesen Prosapassagen kann man Gedanken und Fragen Josefine O.s vielfach wiederaufgenommen finden, etwa die Frage nach den Möglichkeiten von politischem Engagement. Während der Text um Josefine O. ganz nahe am Tagesgeschehen bleibt, stehen hier neben den erwähnten Mikroszenen pointiert formulierte Gedankensplitter:

See Also

Die Begeisterung ist portioniert und Gedachtes so real wie die Finger meiner Hand, 
sagt er. Gegen den Strich über die Brauen streichen. Die Ellbogen auf dem Tisch 
aufsetzen und das Kinn in die Hände legen. Dort die Raben auf den alten Erlen, sie 
besetzen die Nester vom vergangenen Jahr. Hier die Königin umringt vom ganzen 
Schwarm. Den Ton suchen, der sie vereint. Wenn ich gewusst hätte, dass das Licht 
die Farbe der Haut, ich meine den Glanz, das Samtene. Ich hätte nicht gezaudert, 
sagt die Frau mit leiser Stimme. Nebenan wird etwas von Arbeit und Anfang erzählt, 
von Erwartung und Verpflichtung. Ich will mehr, sagt sie. (S. 17f.)

In welcher Beziehung genau diese Passagen zum Teil in Versen stehen, wird bis zum Ende nicht ausgedeutet. Finden wir in Josefine O., der Frau mit leiser Stimme und dem Ich ein Bewusstsein aufgefaltet zu drei Perspektiven? Mischen sich vielleicht in der Prosa Gegenwart und Erinnerung dieser einen Figur? Es bleibt der Lesart überlassen.


Das Ende ihres Textes hat Li Mollet gewissermaßen mathematisch bestimmt: Es sind, wie der Verlagstext vermerkt, „exakt drei hoch vier“, also 81 Prosapassagen von ziemlich exakt gleicher Länge in den Tagesverlauf von Josefine O. eingeschoben. Solche selbst gesetzten formalen Regeln haben sich in der Literatur als Alternative zur Spannungsdramaturgie schon des Öfteren bewährt. Li Mollet gewinnt aus der Beschränkung die Freiheit, sich auf den einzelnen Satz zu konzentrieren und die Sätze mit ihren Leerstellen in Verbindung zu halten ‒ als weiße Linien vielleicht.

Li Mollet: weiße Linien. Prosa. Ritter Verlag, Klagenfurt 2021. 96 Seiten. Euro 11,90

Li Mollet * 1947 in Aarberg, Kanton Bern (CH), Schweizer Schriftstellerin, Studium der Erziehungswissenschaften und Philosophie, Stipendien und Preise für ihre Prosa, u.a. Literaturpreis des Kanton Bern 2019 für und jemand winkt.

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