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„Die Sprache balanciert auf hochgespanntem Seil“

„Die Sprache balanciert auf hochgespanntem Seil“

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Monika Vasik liest Beileibe und zumute von Ursula Krechel


Wir haben keine andre Zeit als diese,
die uns betrügt mit halbgefüllter Schale.
Wir müssen trinken, denn zum zweiten Male
Füllt sie sich nicht.
.
.
Verstohlen träumen wir von Wald und Wiese
Und dem uns zugeworfnen Brocken Glück ...
Kein Morgen bringt das Heute uns zurück,
wir haben keine andre Zeit als diese.
(Mascha Kaleko: „In dieser Zeit“)

© Copyright Jung und Jung Verlag

Es mag vielleicht befremden, dass die Besprechung eines neuen Lyrikbands mit dem bekannten Gedicht einer anderen Dichterin beginnt. Aber es sind gerade die Koinzidenzen, jene nicht planbaren Zufälle wie das Stolpern über dieses Gedicht, während ich mich in Ursula Krechels Lyrik vertiefte, die den Horizont erweitern und dem Verstehen noch eine zusätzliche Dimension geben.
Beginnt man Krechels Lyrikband von hinten – nur scheinbar ein zweiter Umweg -, so liest man zuerst die „Biographie einer Stimme“. Es ist ein Prosatext, knapp mehr als eine Seite lang, in kurze Absätze unterteilt. Ich lese ihn als poetologischen Text, der Einblick in die Sprachfindung einer Dichterin gewährt und mit einem Zitat beginnt:

Nun gut! Wir wollen die Stimme eines Menschen hören lassen, und wäre es auch nur 
für uns selbst. In der Stille hören wir sie gewiss, aber in den Worten suchen wir sie ...

Der Name des Verfassers dieser Zeilen ging verloren. Es war jedoch ein so wesentliches Zitat, dass es aus dem Notizbuch Eingang in mehrere Exzerpte fand. Die Wiederbegegnung setzt Kindheitserinnerungen an eine rüde Alltagssprache in Gang – einer „Herdensprache ohne Grammatik“, wie es in einem Gedicht heißt. Ein Kind sucht nach dem Wert von Sprache. Als der Vater es einmal anbrüllt, warum „ausgerechnet“ das Kind glaube, eine künstlerische Begabung zu haben, weiß es bestimmt:

Es war kein Glauben, es war eine Sehnsucht nach einem Zustand zwischen Brüllen und
Schweigen, eine Sehnsucht nach Sprache, die da wäre, im Raum stände, unmittelbar.

Denn es gab wohl eine Sprache, erkennt das Kind, jene alltägliche Sprache an den Gartenzäunen, und die „floss über vor Gewissheiten“, während es selbst einer ganz anderen Gewissheit des Sprechens auf den Grund gehen möchte. Es bleibt allein in seinem Wollen. Ihm wird kein eigenes Sprechen zugebilligt, was es „unruhig, unbefriedigt, ungesetzt“ macht. Doch ehe es resigniert und sich sprachlos fügt, folgert es (oder das erwachsene Ich in seiner Rückschau) beharrlich:

[M]an muss ganz neu anfangen, bei den schlichten Dingen ... Die Sprache ist eine Mulde.
Wasser sammelt sich in ihr, Worte brüten. Sie ist kein Tunnel, der von hier nach dort führt.

Krechel verwendet ein an Kalekos Text erinnerndes Bild, hier die Mulde, dort die Schale. Beide eint das Wissen um die Einmaligkeit der Zeit und des Lebens. Doch während Kaleko die Ausgesetztheit und das Vorenthaltene anklingen lässt, Mangel und Unentrinnbarkeit, glaubt Krechel an die Möglichkeit des gestaltenden Verwandelns, wenn und solange wir mit der Kostbarkeit unserer Sprache achtsam umgehen. Und so ist Krechels Band eine Liebeserklärung an die Sprache und die Entwicklung einer eigenen Stimme, die nicht vor Gewissheiten strotzt, sondern vom „Können heißt Stolpern“ weiß, sich unentwegt Fragen stellt, mäandernd sich möglichen Gewissheiten annähert und mit Bedacht Argumente formuliert.

Du bist so elend kompliziert, sagst du, sag ich
sag, wie es einfacher ginge auf dem Papier

Krechels Nachdenken ist ein langsamer Prozess der Konzentration, der Zeit kostet. Er bedarf zudem eines zielgerichteten Schweigens. Schon das erste Gedicht Gibt es einen Einwand, der vergessen worden ist? nimmt darauf Bezug:

Der Denkende kommt zu spät, wenn er sagt: Ich denke
dachte ich, oder das Denken hat ihm einen Streich gespielt

Bei Kaleko finden wir den „zugeworfnen Brocken Glück“ und auch Krechel spricht wiederholt vom Glück. Doch es wird nicht zugeworfen, sondern absichtsvoll gesucht, etwa im Kunstgenuss, oder wird immer wieder gefunden im „arbeitsame(n) Glück“ als Schreibende. Auch das Träumen ist Sujet bei beiden Dichterinnen. Krechel kreist zudem intensiv um das Thema Schönheit. „was nennst du schön“, fragt sie und weiß um den schönen Schein wie um die Flüchtigkeit jeder Schönheit, versucht, deren Nachklang im Gedicht haltbar zu machen, „Schönheit ist die Schriftlichkeit“. Im zweiteiligen Gedicht Noch Fragen? heißt es: „Wann haben wir zuletzt ein Gespräch über Syntax geführt?“. Krechel kennt das Eigenleben der Sprache, hat schreibend das plötzliche Glänzen von Wörtern erfahren, „die Hebelwirkung der Adverbien“ und

[d]ie zärtlichen Gelenke der Sprache: Konjunktionen
ach, sie knacken, sind klüger als wir denken.

Krechel schmerzt jeder unbedachte Umgang mit Sprache und sie erweist sich als Kulturpessimistin. Die Dichterin nimmt ein „triebhaftes / Fuchteln mit Wörtern“ wahr, beklagt den zunehmenden Verfall der Sprache in einer neuen Welt ohne Referenzen, die an vorgeblicher „Menschheitsbeglückung“, an Geschöntem, schnellen Klicks und Likes interessiert ist und sich an der Bewertung von Nutzern orientiert. Es ist eine Welt stets geöffneter Browser, der Darsteller mit gezückten Handys, die „Schaufensterreden“ schwingen, der Anmaßung und zu vieler „Personen, die ungefragt ich sagen“. Über das Interesse an, den Zuspruch zu einem Gedicht, das mit Sprache ganz anders, nämlich bedacht(er) operiert, gibt sie sich keiner Illusion hin:

das Gedicht ist überqualifiziert
überbordend überwältigend, deshalb überflüssig
behalten Sie es besser für sich
wir sehen keine Möglichkeit, etwas so Kostbares

in unserem kleinen Verschlag
Verzeihung Verlag erscheinen zu lassen
...
Sie werden das verstehen

„Ich habe Sprache wie andere Hunger / Mangel und Überborden zugleich“ bekennt die Dichterin. Sie beschränkt sich in ihrem komplexen Band nicht allein auf das Dichten und die Reflexion über Sprache(n), sondern betrachtet Kunstwerke oder lässt wie nebenbei das Thema Naturzerstörung und Klimaveränderung einfließen, kreist im Zyklus „Krankenblätter“ um Erfahrungen von Patient*innen, etwa beim Orthopäden oder in der Notaufnahme, oder greift in den 12 Gedichten des Zyklus „Fuga, Blätter“ die Debatten um Flüchtlinge und Identitäten auf. Dass Krechel Beschränkungen durch zu enges Denken ablehnt, spitzt sie aphoristisch zu:

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Binäres Denken heißt: viele Möglichkeiten verschenken.

Beileibe und zumute ist ein materialreicher Band, der auch formal Krechels Repertoire der Dichtkunst zeigt. Neben klassischen, gereimten Gedichten mit strengem Rhythmus gibt es eine Vielfalt freier, oft strophig gegliederter Texte. Dem einen oder anderen fügte sie Prosaminiaturen hinzu. Krechel greift Sprichwörter auf und verwandelt sie, verweist auf ihr wichtige Autor*innen, von denen sie die eine oder andere Zeile assoziativ und zuweilen verfremdet in die eigenen Verse integriert. Gelegentlich blitzt leiser Witz auf, manchmal Spott, selten ein Kalauer. Viele Gedichte betonen die Körperlichkeit, lassen Hände, Füße, Herz und Gehirn agieren sowie die Sinnesorgane Auge und Ohr. Auffallend ist das große, allegorisch genutzte Tierpersonal: Schafe und Lämmer, Hunde und Stute, die Nachteule und andere Vögel, aber auch Schlange und Maus, Käfer, Biene und Mücke. Die Dichterin spielt in ihren Texten versiert mit Enjambements, gern auch mit Alliterationen, beispielhaft erwähnt seien „die flatterhaft flüchtige Frau mit Fieberbäckchen“, „aufgewacht aufgeklart aufgetreten … abgestreift, … abgetrieben“ oder die Titel gleich fünf einander folgender Gedichte (Nur; Negev, Nachforschungen; Nevada, nowhere; Am Neckar, November), die mit demselben Buchstaben beginnen. Kurzum: Es ist ein bunter Band einer denkwütigen Poetin und Sprachkritikerin, dessen Lektüre Freude macht.

Anmerkung:
Der Verlag hat meine zweimalige Anfrage wegen eines Rezensionsexemplars ignoriert, was eine Besprechung zunächst verunmöglichte. Als ich beiläufig Julietta Fix davon erzählte, schenkte sie mir das Buch. Danke Julietta, du bist großartig!

Ursula Krechel: Beileibe und zumute. Gedichte. Jung und Jung Verlag, Salzburg/Wien 2021. 128 Seiten. Euro 20,-

Ursula Krechel wurde 1947 in Trier geboren und war Theaterdramaturgin. Sie lehrte an der Universität der Künste Berlin, der Washington University St. Louis und ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Sie lebt in Berlin.

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