Helmut Neundlinger
In unregelmäßigen Abständen stelle ich mir die Frage, was aus ihm wohl geworden wäre, hätte ihn ein Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung am 16.12.2001 nicht so jäh aus dem Leben gerissen. 44 Jahre war Christian Loidl da, erst wenige Wochen zuvor war er heimgekehrt von einer seiner durch und durch poetischen Reisen – in diesem Fall in die Ukraine, unter anderem auf Einladung seines Freundes Nazar Honchar, eines Lemberger Dichters und Performers, der wenige Jahre später beim Schwimmen ertrank. Loidl war ein Reisender mit Neigung zur Peripherie: Litauen, Mazedonien, Rumänien, immer und überall auf der Suche nach dem Anderen, dem Nicht-Gewöhnlichen, der Kehrseite der Wirklichkeit. Bei seiner Rückkehr hatte er stets Geschichten von skurrilen, unheimlichen, immer aber auch berührenden Begegnungen und Erlebnissen im Gepäck. Er war ein Weltenbummler in Sachen Poesie. Das unterschied ihn noch nicht von Dutzenden anderen Sinn- und Formsucher*innen seiner und anderer Generationen, aber in seiner Persönlichkeit floss etwas zusammen, was in anderen Seelen wohl zu heftigstem Widerstreit geführt hätte: wilder poetischer Aktionismus, gepaart mit buddhistischer Aufmerksamkeit. Die Szenen, die er beschrieb oder zuweilen vor seinem Gesprächsgegenüber geradezu aufführte, enthielten ihn zugleich als beteiligten Akteur und als unbeteiligten Beobachter. Mitgerissen vom Sog der Ereignisse, behielt er trotzdem den sanften Überblick des „lyrischen Reporters“ (Hubert Fichte), der er auch war.
Literarische Korrespondenzen
Über die Jahre war ein quasi weltumspannendes Netzwerk an literarischen Korrespondenzen entstanden, ausgehend von seinen Aufenthalten an der Jack Kerouac School for Disembodied Poetics in Bolder/Colorado (1988/90) und kontinuierlich erweitert durch Besuche bei Poesie-Festivals in Vilnius, Struga, Medellin, Rosario und Amsterdam. Berühmte Namen wie Anne Waldman oder Allen Ginsberg finden sich darunter ebenso wie lokale Größen, z. B. der holländische Autor und Journalist Serge van Duijnhoven, der Loidl in einem Roman gar in die literarische Figur eines Vampirs verwandelte („Wij noemen het rozen“, 1999). Wenn er nicht unterwegs, wandte er die poetische Praxis des Flanierens auf seinen Wohnort Wien an. Seine sprachlich funkelnden und mit hintergründigem Witz ausgestatteten Stadt-Feuilletons erschienen regelmäßig im Spectrum, dem Feuilleton-Teil der bürgerlichen Presse, das Loidl einmal als „freche Schülerzeitung in einem ehrwürdigen Gymnasium“ beschrieb. Die Texte veröffentlichte er 1995 gesammelt unter dem sprechenden Titel „Wiener Mysterien“ als Buch beim Verlag edition selene. Als er später der Wiener Stadtzeitung „Falter“ ein ähnliches Projekt unter dem Titel „Wien ist (wo)anders“ vorschlug, holt er sich beim damaligen Stadtleben-Redakteur Thomas Rottenberg freundliches Desinteresse ab. Loidls Grundidee wäre gewesen, Situationen aufzusuchen und zu beschreiben, die völlig andere Blicke auf die bis in die letzten Winkel der Subkultur reichlich klischeebeladene Stadt freilegen sollten. Etwas Vergleichbares schuf unlängst der Architekturpublizist Woiczech Czaja mit den Mitteln der Fotografie in seinen unter dem Titel „Almost“ in der edition korrespondenzen erschienenen Bänden.
Ich lernte Christian Loidl 1993 kennen. Er war mir durch seine Texte im Spectrum der Presse schon ein Begriff, und weil ich auf seine poetische Arbeit ebenso neugierig war, besuchte ich einen Auftritt im legendären, mittlerweile nicht mehr existierenden Afro-Asiatischen Institut in der Türkenstraße. Sein Vortrag war nicht einfach eine Lesung, sondern eine Performance, in der er Stimme und Körper musikalisch-gestisch einsetzte. Nach der Lesung sprach ich ihn an, Loidl erwies sich als niederschwellig im besten Sinn: freundlich, offen, mich damals 20-Jährigen wie einen Erwachsenen auf Augenhöhe behandelnd. Wir hielten Kontakt, und bald durfte ich seine Auftritte auch als Musiker begleiten. Ebenso prägend waren die „Sessions“, die wir im Lauf der Zeit in seiner Wohnung abhielten: Locker eingeleitet durch eine Teezeremonie (er war stolzer Besitzer eines Samowars), ergab sich fast beiläufig eine Lese- und Schreibsituation, an der neben mir zuweilen auch andere Protagonisten (wie etwa der bildende Künstler und Autor Markus Kircher) beteiligt waren. Christian nahm ein Buch aus seiner umfangreichen und vor allem in Bezug auf amerikanische Literatur gut ausgestatteten Bibliothek und warf darin aufgefundene Zeilen zur Inspiration in die Runde. Nach und nach entstand am Boden eine ganze Landschaft aus Zetteln, die beschrieben und immer wieder verlesen wurden. Dabei kam es auch zu konstruktiver Kritik und Weiterentwicklung – für mich so etwas wie meine erste wirkliche „schule für dichtung“ und ein heilsames Kontrastprogramm zu jenem Workshop, den ich 1994 im Rahmen der Wiener „schule für dichtung“ beim großen Gerhard Rühm absolvierte. Der nützte die drei Tage zur ausführlichen Selbstdarstellung und zeigte herzlich wenig Interesse an den anwesenden Schüler*innen. Loidl war von solcher Selbstherrlichkeit völlig frei, zuweilen übte er sogar recht schonungslose Selbstkritik an eigenen Schöpfungen.
Bloomsday als Initiation
Immer wieder war ich auch an abendlich-nächtlichen Stadtstreunereien beteiligt, die er – wie er mir später beiläufig gestand – zuweilen auf L.S.D. absolvierte. Mir Landei-Greenhorn, der ich unüberwindliche Angst vor der Wahrnehmungsentgrenzung dieser Droge hatte (und nach wie vor habe), war bei solchen Zusammenkünften lediglich seine Neigung aufgefallen, die Schraube des Geschehens immer eine Windung weiter zu treiben. Ich erinnere mich speziell an einen Abend (beinahe ist es mir peinlich, davon zu berichten), den wir vom damals noch recht jungen Café Tachles in der Leopoldstadt aus (wo wir beide wohnten) in Angriff nahmen. Ich hatte mein Exemplar von James Joyce’ „Ulysses“ im Gepäck, weil Bloomsday war (also der 16. Juni, jener Tag, an dem der Roman spielt, und zwar im Jahr 1904). Die leichten Grindspuren auf dem Buchdeckel erklärte ich freimütig damit, dass ich einmal im Zustand übervölliger Bierberauschtheit neben mein Bett gekotzt hatte, und einige Spritzer hatte dabei eben auch dieses heilige Buch der Avantgarde abgekriegt. Loidl nahm es mir daraufhin aus der Hand und ging von Tisch zu Tisch, maßvoll gestikulierend. Als er zurückkam, erklärte er mir, er habe nun allen im Lokal Anwesenden mit dem Hinweis auf meine Kotze einige Zeilen aus dem Buch vorgelesen. An die Blicke der mich daraufhin musternden Menschen kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an das unangenehme Gefühl der Exponiertheit. Es war eine Art von Initiation in einen Abend, der mich gemeinsam mit einer weiteren Begleiterin und Christian durch den ersten Bezirk bis zum Naschmarkt führen sollte. Nach dem Aufbruch aus dem Tachles begaben wir uns auf eine Reise durch die Nacht der Inneren Stadt, die Loidl immer wieder unterbrach, um wie in einer kultischen Handlung aus dem Buch zu lesen. Erfolglos blieb unser Versuch, die damals in der Elisabethstraße wohnende Philosophin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow aus den Federn zu läuten. Mit dieser Schamanin des wilden Denkens hatte ich Christian bekannt gemacht, indem ich ihn in ihre Vorlesung mit dem Titel „Magie. Apologie einer materialistischen Logik“ am Institut für Philosophie mitschleppte. Loidl war (wie übrigens die allermeisten Hörer*innen) augenblicklich hypnotisiert von den hochassoziativen Gedankenimprovisationen, die Elisabeth aus ihrer profunden Kenntnis des Denkens und der Kunst der Renaissance und des Barock wie einen unendlichen Faden herauszuspinnen pflegte, während auf ihrem Schoß ein Zwergrehpinscher namens Heinz thronte und sich von seiner Herrin kraulen ließ. Enden sollte unser Bloomsday schließlich in der Gräfin am Naschmarkt, wo Christian mit seinem markanten Schluckauf, der sich oft zu einem langgezogenen Schrei steigern konnte, unangenehm auffiel. „Nicht schreien“, befahl der Kellner, worauf ihm Christian in aller Ruhe erklärte, dass es sich bei diesem Phänomen um eine nicht ansteckende Form des Tourette-Syndroms handle, was den Kellner nicht wirklich beruhigte. Wir verließen das Lokal wieder und wurden endgültig von der Bloomsnight verschluckt.
Nichts sein – alles sein
Manchmal kommen mir meine Erlebnisse mit Christian in der Erinnerung vor wie eine Episode aus dem Buch „Die wilden Detektive“ von Robert Bolaño. Es wundert mich im Nachhinein, dass ich diesen Autor nicht durch Christian selbst kennen lernte, denn sein Schreiben war maßgeschneidert für Loidls literarisches Anforderungsprofil: das Erzählen eine einzige Form des Vom-Weg-Abkommens (dérive, déterritorialisation), und gerade in den Um- und Abwegen zeigt sich plötzlich eine andere Schönheit, Dringlichkeit, Wahrheit. Wobei letzteres Wort wohl zu groß, zu wertend für Loidl gewesen wäre, wie mir auffällt. „Wenn du nichts bist, bist du alles. Das ist alles“: Diese Sentenz eines tibetischen Buddhisten namens Kalu Rimpuche stellte er einmal als Motto einer seiner schmalen, in der edition selene erschienenen Gedichtsammlungen voran. Mit tibetischen Buddhismus war Loidl über seine Bekanntschaft mit Allen Ginsberg in Berührung gekommen. Die Geschichten, die er vor allem von dem Lama Trungpa Rimpuche erzählte, klangen manchmal wie surreal-anarchische Gleichnisse, die erahnen ließen, warum diese geistige Tradition gerade für in der Zeit der 1960er- und 1970er-Jahre sozialisierte, künstlerisch tätige Menschen so attraktiv war.
Mir schien der Satz von Kalu Rimpuche immer auch eine Art von Quintessenz von Loidls Weltzu- und -umgang zu sein: In dem Verzicht auf Identität, auf eine stabile, um nicht zu sagen: starre Form lag für ihn der von allen eingrenzenden Rastern befreite Möglichkeitssinn. Loidl sammelte solche Momente des Neben-sich-Tretens, des freiwilligen Verzichts auf Kontrolle über den Fort- und Ausgang einer Szene, einer Begegnung. Einmal traf er in Wien auf eine Frau namens Anajita, die spontan drei Tage und Nächte an seiner Seite verbrachte. Sie redete, sang und agierte in Einem fort, er war der einzige, der ihr in Sachen pausenloser Improvisation Paroli bieten konnte. Soweit ich mich erinnere, bezeichnete sie sich als persische Prinzessin – fabelhaft war ihr energetisches Wesen allemal. Mich verunsicherte ihr expressiver Grundgestus, und bei unserer zweiten Begegnung entfuhr mir der Satz: „Same stuff as yesterday!“ Sie antwortete schlagfertig: „So where is your new stuff?“ und fuhr mit ihrem Gesinge fort. Christian lachte herzlich und auch ein wenig schadenfroh über ihre Parade. Ich war als Spießer entlarvt.
Loidl konnte Menschen verunsichern, allerdings tat er es nie vorsätzlich. Er hatte keinerlei Interesse an Macht über andere, und vielleicht wurde er genau deswegen zum Anziehungspunkt für Außenseiter und Randfiguren und zur Projektionsfläche für Menschen, die durch ihn etwas ausleben konnten, was ihnen aufgrund innerer wie äußerer Grenzen und Zwänge unmöglich war. Vor dem Guru-Status bewahrte ihn seine Abneigung gegen jede Form höhergradig organisierten Zusammenseins. Die Pole Position bei der Gründung und Leitung der „schule für dichtung“ überließ er mehr oder weniger freiwillig dem diesbezüglich mit einem ungleich größeren Geltungsdrang ausgestatteten Christian Ide Hintze, der Loidls an der Jack Kerouac School for Disembodied Poetics geknüpfte Kontakte zu den Beat-Dichter*innen geschickt zu nutzen wusste. Was nicht heißt, dass Loidl frei von aller Sehnsucht nach Anerkennung gewesen wäre. Sein Bericht vom Auftritt zum großen Fest für H. C. Artmann anlässlich des 75. Geburtstages (organisiert von der „schule für dichtung“, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, in den zwischenzeitlich abgebrannten Sophiensälen) kam einer Autoinitiation gleich. Aufgabe war, dem „Meister“ ein Stück ausgehend von dessen Gedicht „Wald“ darzubringen. Christian performte sein hypnotisch-dadaistisches Sprechgebilde „krallen-medulla“ und sah sich zum ersten Mal in seinem Poetenleben mit der Anerkennung von Kollegen belohnt, die ihn bislang vollkommen ignoriert hatten. „Sogar der Gerhard Rühm hat mir lächelnd zugenickt“, erzählte er, und in seinen Worten war auch ein Stolz über diese Aufnahme in den „Inner Circle“ der zeitgenössischen österreichischen Dichtung zu spüren. Zuweilen beklagte er sein Ausgeschlossensein vom Stipendientopf, da doch andere viel geschickter als er im Verfassen von hochgestochenen Exposés wären. In den späteren Jahren kam er dann sehr wohl zum Zug und hatte deutlich mehr Ruhe, an seinen poetischen Experimenten zu arbeiten.
Ein Werk in vielen Formen
Es ist nicht zuletzt dieses vielgestaltige „späte“ Werk (was für eine Begrifflichkeit im Fall eines mit 44 Jahren verstorbenen Dichters), das mich zu der Frage zurückbringt, was aus Christian Loidl in literarischer Hinsicht wohl geworden wäre, wie er sich weiterentwickelt hätte. Denn Entwicklung war stets ein Kennzeichen seiner literarischen Arbeit: Wie sein hochverehrtes Vorbild H. C. Artmann lotete er die Möglichkeiten poetischer Formen mit großer Verspieltheit aus: Haiku, alle Formen von konzentrierter, zwischen Meditation und Überraschung pendelnder Kürze, aber auch Buchstabenspielerisches wie Mesosticha, die ihn zu wahren Räuschen an Produktivität motivierten. Nimmt man seine letzten drei Publikationen in den Blick, so waren es wohl viele Richtungen gleichzeitig, in die er sich bewegte. Die Bücher könnten unterschiedlicher nicht sein: zunächst der kolossale Sprachfluss „icht“, eine Montage aus Sätzen und Sprachfetzen, die er im Halbschlaf in sein Diktaphon gesprochen hatte und die dem befreundeten Komponisten Bernhard Lang als Grundlage für eine Komposition dienten; dann die in die Kindheit zurücktastende Fastprosa „kleinstkompetenzen“, ein repetitiv-patternhaftes Gebilde, das er mit dem ebenfalls eng mit ihm befreundeten Akkordeonisten Otto Lechner auch auf CD einspielte; schließlich der „schwarze rotz“, poetische Antworten auf H. C. Artmann, eine Kooperation mit dem Scherenschnittkünstler Jo Kühn, deren Präsentation er nicht mehr erlebte.
Ich bin mir nicht sicher, wie leicht es für Christian Loidl in den Nullerjahren gewesen wäre, in dem sich radikal wandelnden Literaturbetrieb sicht- und hörbar zu bleiben. Sicher, Österreich war und ist mit seinen Stipendien und subventionierten Kleinverlagen eine einigermaßen geschützte Spielwiese, aber jene Autor*innen, die so konsequent einen Bogen um das Genre Roman machen, wie Loidl es tat, waren und sind unter die tatsächlich „bedrohten Arten“ einzureihen. Ich hätte trotzdem lieber noch Zeit mit ihm verbracht, als in unregelmäßigen Abständen Texte über ihn zu schreiben. Unsere Freundschaft hätte sich wohl verändert und wäre vielleicht distanzierter geworden, so wie ich es mit anderen älteren Freunden erlebt habe, aus deren Dunstkreis man sich in eigener Sache auch einmal losreißen muss, um einen höchsteigenen Weg einzuschlagen. Aber manchmal hätte ich gern gewusst, wie er weitergeschrieben hätte, wäre ihm nicht dieses Unglück geschehen. Und natürlich auch, was er zu den Texten gesagt hätte, die ich seither geschrieben habe und die durch ihn zumindest, was das Beginnen betrifft, einen entscheidenden Impuls erhalten haben.