Andreas Pavlic liest wir gehen von Sandra Hubinger
Ein Gehen von Szene zu Szene
Die Autorin geht voran und lesend gehe ich ihr nach, sehe ihr zu, wie sie links und rechts des Weges Szenen, Bilder, Geschichten, komprimiert in ein paar Zeilen, entwirft. Wir bewegen uns durch Lichtungen, Wälder, entlang von Meeren, wir sehen Wiesen, Halme und Wolken. Wir befinden uns „draußen“, in der Natur. Der Herausgeber der keiper Lyrikreihe, Helwig Brunner, ordnet im Nachwort die Gedichte der Natur- und Landschaftslyrik zu, nicht ohne auf die Problematik der Ein- und Beschränkungen durch Kategorisierungen hinzuweisen. Sandra Hubinger, so Brunner, nähere sich diesem Genre auf „unverwechselbare“ Weise an und interpretiere es „zeitgenössisch“ neu. Wir befinden uns in einer Natur mit Tapetenresten auf den Wänden, mit Schildkröten, die Plastiksäcke mit Quallen verwechseln, und mit einem 3D-Drucker im Vogelpark-Shop. Die Autorin geht und beobachtet genau, sie baut vertraute und entfernte Landschaften, die eigentümlich belebt und in Bewegung sind. Es ist, als würde sie vor jedem Gedicht ihre Hand von unseren Augen nehmen und uns zurufen: Seht nur!
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Eine Nebelhaut schwamm über dem Mischwald unser Atem dampfte uns voraus als würden wir gezogen von einer Lokomotive so schwarz wie der Acker ringsum da stapften wir querfeldein Über gefrorenen Erdklumpen gerötet unsere Finger fiel ein Schwarm Krähen vom Himmel wo die Sonne ein gelbliches Schwämmchen zerteilten und streuten wir ihnen Brot Aus den Ställen klagten die Kälber über gesprenkelte Steinfliesen trottend (hunderte Jahre) zur Rast in die Zirbenstube nach dem Schnaps husteten wir Keksbrösel bei flackerndem Kerzenlicht
Die Sprache und das Wir
Wie in diesem Gedicht geht es Hubinger nicht um ein einsames Wandern, auch nicht um ein individuelles Genießen oder Glück. Stets wird von einer kollektiven Perspektive aus gesprochen: Ein Wir, das sich bewegt, etwas erfasst oder auch nur Keksbrösel hustet. So, als würde sie damit sagen wollen: Wir sind nicht allein auf dieser Welt. Und: Wir können darauf vertrauen, dass sich unsere Wirklichkeit sprachlich zeigen lässt. Was die Autorin sprachlich zeigt, könnte ebenso wirklich sein. Die Erfahrung von Welt ist zwar ein sinnlicher und mitunter intimer Akt, jedoch kein ausschließlich individueller. Die Wege, die wir beschreiten, sind bereits ausgetreten, sie sind ein Produkt eines kollektiven Gehens. Wer als Kind mit anderen (Kindern) auf Wäschestangen geklettert ist, weiß das, und wer kopfüber von ihnen gehangen ist, hat es gesehen. Was wir sehen, wird auch von anderen wahrgenommen, und unsere Perspektive auf die Welt wurde bereits von anderen verkehrt.
Ein Tannenwäldchen begann hinter dem Schlagbaum wir turnten auf der rot-weiß- roten Stange mit den Knien eingehakt die Köpfe nach unten hängend weltumgewandt Fielen uns die Augen auf statt zu baumeln am Schlagbaum schauten wir die Jungtannen wie sie an der Erde hingen gleichzeitig sich aufmachten zum Himmel Himbeerlicht
Natur und Naturlyrik
Seit dem Holozän arbeitet der Mensch an der Veränderung, Aneignung und Unterwerfung der Natur. Ein komplexes Beziehungssystem zwischen Pflanzen, Tieren, Landschaften und dem Gattungswesen Mensch ist dabei entstanden. Im gegenwärtigen Zeitalter des Anthropozäns wird der (zerstörerische) menschliche Einfluss deutlich. Der üppige Wald oder eine Almwiese sind bereits Teil des umgeformten Natur- und Kulturraums, in dem wir uns bewegen. Daher gleicht bei Hubinger „die Natur“ einmal einem Naherholungsgebiet am Rande einer Großstadt, ein anderes Mal jenen ländlichen Gegenden, in denen die Kreisverkehre und Gewerbeparks wachsen. Auch wenn die Landschaften in den Gedichten manchmal gar idyllisch und fernab der Zivilisation wirken, ahnen wir, dass wir, würde die Autorin ihren Blick nur etwas weiter schweifen lassen, die Straßen und Firmenhallen zu Gesicht bekämen. Wir ahnen aber auch, dass wir in dem Moment die Schönheit dieser Plätze entdecken würden. Daher ist diese Lyrik fern ab jeder Heimattümelei und Fremdenverkehrsrhetorik.
Vor dem Abriss lag die Birne in der Wiese so auch wir im hohen Gras zurückgekehrt in diesen Garten faulend in Langsamkeit die Seele des Hauses schon lange im Ruhestand Streichelte die schweren Köpfe der Pfingstrosen Blatt für Blatt warfen wir ab sanken tiefer in die Betrachtung achteten auf Geräusche des Hauses filterten den Cantus firmus heraus Birkenzweig gegen Fenster die Scheibe zersprungen eingraviertes Netz einer Glasspinne in deren Falle wir hingen
Welt ohne Mensch
Die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Welt ist nicht nur ein metaphorisches Geplänkel, sondern sie ist es tatsächlich: Die „angeknabberten Triebe“, „kahlgerupften Bäume“, „Abfälle im Spülsaum von Wellen“ und „aufgesprungenen Lippen“ in den Gedichten zeugen davon. Es handelt sich dabei um Auszüge aus der fünften der sieben Gedichtserien im Buch. Sie trägt den Titel „Ummantelte nun ein grüner Flaum“ und hat als einzige einen Literaturhinweis: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde von Alan Weissman. Diese Gedichte schildern eine Welt nach dem Verschwinden des Menschen, in der all die von ihm hergestellten Dinge und verbauten Materialien zerbrechen und vergehen. Eine schaurige, faszinierende Vorstellung, die an die Schönheit der postapokalyptischen Dystopien gemahnt, die natürlich auch ein Ende der Dichtung bedeuten würden. Aber das werden wir doch nicht zulassen wollen?
Erste Sprünge in der Terrassenverglasung vom Aufprall kleiner Vögel und unsichtbar die Sporen in den Mauern was da spröde brüchig wurde ohne die Weichmacher ummantelt nun ein grüner Flaum
oder
Der Rost fraß sich durch Eisen ließ zurück ein Skelett fragil wie aus Glas geschliffen kristallin als läge ein hoher Klang darin
Sandra Hubinger: wir gehen. Gedichte. edition keiper, keiper lyrik: 21. Graz 2019. Euro 15,40