Lydia Mischkulnig über Konrad Bayer
I.
Was mich bei den großen Dichtern interessiert? Wie kamen sie zu ihren Ideen. Liegt dem Erfinden eine Rezeptur zugrunde, gibt es Prinzipien, die helfen gewohnte Zusammenhänge aufzuschlüsseln, um neue zu bilden. In seinem Vortrag zur Filmkunst weist der Experimentator Peter Kubelka auf die Besonderheiten der Kunstgattung des Tonfilms hin. Die Erfindung des Filmes bedeute eine Befreiung der Naturzusammenhänge von Ton und Bild. Darin liege die Kraft des Mediums. Bild und Ton voneinander getrennt aufgezeichnet werden miteinander beliebig kombinierbar. Die Präsentation der Spuren liefert aus der Erfahrung der Gewohnheit gelöste Erzählung. Das Medium kündigt den naturgegebenen Zusammenhang auf, den unsere Sinne kennen, setzt Möglichkeiten einer gestaltbaren Synthese frei, Assoziationen in Gang, und liefert den Raum für eine neue Wirklichkeit.
Unsere Sinneswahrnehmungen sichtbar zu machen verlangt, ihre Spuren zu sichern und eigenständige Kunstgattungen mit innerer Gesetzmäßigkeit und eine Grammatik der Disziplinen zu entwickeln. Diesem Regelwerk kann natürlich widerlaufen werden. Die „gebildeten“ Spuren des Films werden nun auf dem Schneidetisch zueinander in Rhythmik gebracht, um zu einer neuen Wahrnehmbarkeit zu gereichen. Augen und Ohren werden im Projektor zusammengebracht, dem Zuschauer präsentiert. Die akustischen Signale und visuellen Zeichen, auf Träger gebannt, sind zu einer Einheit wieder zusammengebracht. Bild und Ton ergeben eine zeitversetzte, achronologische, wiederholte, sich kreuzende, verzerrende, auslöschende, bestätigende Collage, montieren künstliche Realität.Das Gehirn sucht im Futter dieses Materials die Bedeutung. Diese Suche löst den kreativen Prozess des Sortierens der Informationen aus, um die Fügung zur Sinneinheit zu vollbringen. Das Scheitern daran ist ebenfalls in Ordnung. Denn allein der Prozess des Sortierens ist der Sinn des Schaffens von Ordnung.
Mit diesem Spuren-System hab ich mir auch das Modell von Kubelkas Sprachtheorie erklärt, Zeichen von deren Bedeutung zu lösen, sie miteinander kombinabel zu machen – umzuordnen. Die Referenz auf die Konvention bleibt erhalten, denn sonst träte die Differenz durch Umordnung gar nicht zu Tage. Die Literatur bedient sich der Umordnung, wirbelt die Konvention des Bild-Sprachgebrauchs durcheinander. Wie auch der Tonfilm, wenn ich einen Apfel essenden Mann sehe und dazu die Stimme einer Frau aus dem Off höre, die über das Individuelle spricht, als ein Mann das Gewehr zückt, zielt und die Sonne vom Himmel schießt.
Im Kino sitze man eigentlich im Kopf eines Filmemachers, sagt Kubelka. Man schaue sich eine Kopf-Montage als Projektion an. Die Hommage an die Eigenheit der separierten Aufnahme von Bild und Ton ist mit elegischem Beigeschmack versetzt, da das von ihm honorierte Gestaltungsprinzip mit den Möglichkeiten der Digitaltechnik verloren geht. Trennung von Bild und Ton scheint mir für meine Konrad Bayer Lektüre interessant, um das Durcheinander seines Werkes in den Griff meiner Gestaltungslust zu bekommen. Ich setze mich ins literarische Kino und der Film spielt Bayers Dichtung.
der kopf des vitus behring (1963), der erste Roman Konrad Bayers bietet ein solches Programm. Ich lese zwar die Zeilen, doch sehe und höre ich die Sätze. Die Bilder poppen Wort für Wort auf, der Sound entsteht mit ihrem Fluss. Stroboskopartig verflicht sich der Text über Vitus Bering mit mir. Ob das Lesen einen Verwandlungsprozess für das eigene Schreiben auslöst? Der Sinn zersetzende Film von Isidore Izou „Traité de bave et d’éternité – Abhandlung über Speichel/Geifer und Ewigkeit“, und Izou’s lettristische Radikalität hatten mich abgehärtet gegen Manifeste und den Anspruch auf Total-Ästhetizismus. Der Versuch, eine Notation für bisher nicht verschriftlichte Laute zu entwickeln, erschien mir als lustvolles Spiel und hielt mich neugierig für Klänge und mir fremde Zeichen.
Ich bilde mir ein, bei Bayer ein Zittern zu spüren, einen Zweifel, den ich von Isidore Izou kenne, weil Sprache, selbst wenn sie Grenzen zieht, um ihre Entgrenzung zu suchen, sich nicht aufhalten lässt, Sog zu entfalten. Sie drängt nach Erzählung und weist über das Kopfkino hinaus, was mir Lust auf Sprache für die Literatur meiner Prägung macht. Die Zwänge der konkreten Poesie, der lautmalerischen und zeichenverhafteten Gesetze, erscheinen mir wie ein Korsett um den Sprachkörper, worin gerade ihr Witz der Befreiung liegen mag. Als müsste der züchtigende Körper selbst in Form gebracht, auf der Suche nach einer Sprache in der Sprache, ihren Text als Urteilssprüche in die Sprachhaut eines Kommandeurs oder einer Kommandeurin ritzen, die sich wie in Kafkas Strafkolonie unter die Egge ihrer Foltermaschine legen. Sprache schreibt mir nicht das Urteil über mich aus meinem Datensatz ein, sie baut meinen Identitätsverlust aus, der mich mir fremd macht und dieses Fremde wird mir dadurch paradoxerweise wieder vertraut.
alle unsere vorfahren haben die sprache zusammengebosselt und ihre reaktionen damit eingerüstet und so wurde mit der sprache alles gleich gemacht und nun ist alles das gleiche und keiner merkt es.
So heißt es bei Konrad Bayer im Traktat der stein der weisen, die einzige Buchveröffentlichung zu seinen Lebzeiten.
Die titelgebende Metapher „Der Stein der Weisen“ bricht mit der Bedeutung dieses Begriffs, welches die Essenz geballter Erkenntnis eines Geheimwissens verspricht. Bayers der stein der weisen birgt sprachspielerischen Eigensinn, um das Dichten und Leben aus den Engen des Nationalsozialismus zu reißen. Die ständestaatliche Reetablierung mit borniert literarischer Traditionspflege war in den 1950igern Programm der literarischen Szene Österreichs. Die exilierten Schriftsteller*innen hatten kaum Chance wieder Fuß zu fassen und am literarischen Geschehen teilzuhaben. Den Dichtern der Wiener Gruppe, männlich, dominant, exkludierend, wird vorgeworfen, gegenüber kaum vergangenem Leid der NS-Herrschaft, sich unsolidarisch und verdrängend blind gegenüber den vertriebenen jüdischen Kollegen gezeigt zu haben. Konrad Bayer ignoriert den politischen Kontext der Literatur des 1939 in Buchenwald umgebrachten Jura Soyfer, wie aus einer Stelle seines Briefes an Ida von Szigety hervorgeht. Er äußert sich verdrängerisch über die Theateraufführung des Stückes Vineta – die versunkene Stadt, ohne den Inhalt, die Darstellung des Vergessens und die Ausgeliefertheit des Autors mitzudenken. Der Exilforscher Konstantin Kaiser kommentiert in seinem Aufsatz über „«Ständestaat» und Antisemitismus“ in der Literatur der 50iger Jahre:
Im Dezember 1956 besuchte der Literatur-Avantgardist Konrad Bayer eine Theatervorstellung des Experiments am Lichtenwerd in Wien; gegeben wurde Jura Soyfers Mittelstück Vineta. Bayer schreibt darüber in den posthum veröffentlichten Briefen an Ida, nachdem er sich zunächst über die Mittelmäßigkeit der Aufführung verbreitete:
vineta' ist von jura soifer (glaube österr. jude) und nicht sehr extravagant, befürchte: gar nicht. du kennst diese tour der halbmodernität. humanistisch etc. schlecht, bemüht sich aber um das gute. beachte: das gute, das ist ja nicht das schlechteste. aber wenn man das wirklich auf klasse baut, wahrscheinlich unerträglich langweilig und m e s a l l i a n t.
Man fragt sich, warum Konrad Bayer nicht zuerst der politischen Haltung des Autors Jura Soyfer gewahr wurde, der doch als ein deklarierter ‚Linker‘ anzusehen ist. Oder vielleicht bemerkt hätte, dass das im November 1937 in Wien uraufgeführte Stück in „Auseinandersetzung mit der französischen Avantgarde“1 entstanden sein könnte. Die Klassifikation des Autors als „österr. jude“ geht jedoch bei Bayer allen anderen Erwägungen voran. Die Verbindung von Skepsis gegen die humanistische Intention des Stückes mit dem Durchschauen der jüdischen Herkunft des Autors zeugt von erfolgreicher Resistenz gegen Versuche antinazistischer Reedukation. Bedeutsam scheint die Wiederkehr des Denkmotivs: Was Soyfer zu bieten hat, ist „diese tour der halbmodernität“, also nichts Echtes, nichts „wirklich auf klasse“ Gebautes.
Konrad Bayer konstatiert selbst in seiner notorischen Kleinschreibweise (wie sie die Nazis einzuführen gedacht hatten, aber 1944 als nicht kriegswichtig fallen ließen) zu seiner Zeit der 50iger Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts über die
situation der österreichischen literatur der gegenwart. entgegen, trotz einer reihe, vieler, ungeleugneter widerstände, umstände, ungünste, missverständnisse, hindernisse, wie sie wollen, gibt es für, hat die junge österreichische literatur, österreichische literatur der gegenwart (die nichtssagende kategorie entstehung nun zu aller ärger aus vorbestimmtem titel und jetzt liegt er da, der bleiche spulwurm, dem sonnenlicht der bedeutung vorenthalten, hilflos am boden...) seit einiger zeit, zerplatzen der naturgeschützten nachkriegsschreiber, jahren, eine chance, günstige gelegenheit. ungestört zeigt sie sich, die, in einem unkontrollierten zustand wuchernder pubertät. (R S. 15)
Konrad Bayer schuf Gedichte, Theaterstücke, Gemeinschaftsarbeiten, literarische Cabarets, Romane. Seine Produktivität erlaubt es sich ihn als einen glücklichen Schreiber vorzustellen? War er von Versagensangst gequält?
Gerhard Rühm (geb. 1930), Schriftsteller, bildender Künstler, Komponist und Proponent der Wiener Gruppe schildert:
1951/52 lernte ich konrad bayer durch h.c. artmann kennen. ... ich erinnere mich, dass konrad bayer, der sich betont modisch elegant kleidete und sich etwas distanziert gab, auf mich dandyhaft wirkte - was mir nicht zusagte. (R S. 9)
Bayer galt als exzentrisch, schillernd, modebewusst, ewig jung. Mit 32 Jahren drehte er das Stadtgas auf, vielleicht aus sadomasochistischer Lust am Experiment, war es ein Unfall oder eine Absicht – jedenfalls wurde er zu spät gefunden.
Rühm kritisiert die frühen Gedichte und die Kurzprosa Bayers, die ihm surrealistisch gangbar, aber zu wenig konstruktiv war. Rühm bezeichnet sich als „eher vom sturmexpressionismus, stramm und schwitters“ kommend. (R S. 9)
jede zeile des radikalen literarischen expressionismus, surrealismus und dadaismus wurde damals unter uns gierig herumgereicht – es war schwer zugängliches material. (R S. 9)
Robert Schindel (geb. 1944) beschreibt die Partizipanten der Wiener Gruppe als ehemalige HJ-Kinder, die im Nachkriegswien des Nationalsozialismus die Avantgarde nachholten. In Paris war der Lettrismus neu erstanden, die Fortsetzung dadaistischer und surrealistischer Schreibmethoden. Jean Cocteau, der Kollaboration mit den Nazis stets verdächtigt, befeuerte die in Wien nötige Revolutionierung restaurativer Ästhetik. Die Einstellung der literarisch innovativ auftretenden Literaturzeitung PLAN (1938, 1945-1948), in der ehemalige Vertriebene bereits wieder publizierten, in der Szene aber keine Relevanz eingeräumt bekamen, wurde nicht beklagt, nicht bekämpft.
Die Wiener Gruppe beschäftigte sich mit literarischen Techniken der klassischen Moderne surrealistischer, dadaistischer Muster, bis hin zur Maschinendichtung. Gemeint ist, dass sich Dichtung aus einem Buchstabenfeld selbst erzeugt. Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) verwirklichte den Landsberger Poesieautomaten (1974), mit dessen Apparatur man Gedichte produzieren konnte. Enzensberger beurteilte die Gedichte des Apparates als Artefakte eines Automaten, der mit Klappbuchstaben Worte umschrieb und nach gewissen Regeln Sätze generierte. Diese Regeln funktionierten wie ein Programm. Es handelte sich bei Enzenbergers Poesieautomaten um eine Maschine, die ein „Spiel“ beherrschte. Wunsch- und Albtraum wären eine derartige Spielmaschine, die den Autor ersetzte und Literatur an die Spiel-Syntax eines Regelsystems bände. Die daraus resultierenden Artefakte, Gedichte, dienten als Projektionsflächen.
Wie weit man es (das Gedicht) mit Sinn auflädt, hängt vom Betrachter ab. Es können Gedichte entstehen, die jemand was sagen.
Wer nicht besser dichten kann als diese Maschine, der soll es bleiben lassen.3
Die Frage nach einer Grenzziehung zwischen Spiel und Dichtung erweckt die Liebe zu mathematischen Reihen. Sie belegen mich mit der Zwanghaftigkeit, Muster und Regeln zu entdecken, um zu einem Rezept für meine Kreationen zu kommen. Sie bringen bei Bayer simples und dadurch überzeugendes Durchdeklinieren hervor. Das Gedicht „franz war“ liefert Wortmaterial für diverse Satzarten, die eine Geschichte dynamisieren:
franz war. war franz? franz. war. wahr. war wahr. wirr. wir. franz, wir! wir, franz. ihr. franz war wirr. war franz irr? wirrwarr. (R S. 80)
Sieben Worte erzeugen ein Gespräch über jemanden, der eine Gruppe bildet, die darüber urteilt, wo einer irr geworden sei, und ein Wirrwarr als onomatopoetische Pointe erzeugt. Der Witz aus der Kombination von „wir, wirr, war, wahr, wirrwarr“ steckt im Programm. Es löst sich im Zeichen der Frage, ob Franz wirr war, auf und formuliert sich als Antwort. Bayer spielt mit Reimen und Prosodie märchenhafter Zaubersprüche.
die jakobinermütze schlanze wanze akkurranze schlanze banze ranze zanze akkuranze wau akkomode schlode wode akkomode rode mode okkohode code brod (R S. 70)
Liegt dem Klang eine Geheimsprache babylonischen Wurzelziehens oder bloß das Singsang kindlicher Abzählreime zugrunde?
... schwilze kimmon pare kres ento lerma krane wildis stire auzad flare mi bide laustad wantil prausek stari alla stari wendo per in kaural flendi rauso funge skari flantero (R S. 71)
Es handelt sich um eine auditive Projektion auf Papier, eine Zustimmung an die Lautgedichte in Hugo Ball Tradition, deutet Rühm. (R753 f.) Die sich distanziert gebende Contenance des Herausgebers im Kommentar zu Konrad Bayer. Sämtliche Werke (1996), birgt erschreckende Nüchternheit für mich, die umschlägt in Empörung über die mangelnde Begeisterung für Bayers Lautgedicht. Es ist für mich ein sicheres Gehege für die Hingabe an Beschwörungsrauschen, halb sink ich, halb zieht mich der Sog der Laute hin, als hätten mich noch nie die 99 Varianten Stilübungen (1947) von Raymond Queneau (1903–1976) an der Angel gehabt.
Ich liebe banale Basal-Erfahrungen beim Lesen. Elfriede Jelineks (1946) Frauenentwertungstiraden beispielsweise, oder Schleimphrasen von Publizisten-Stereotypen aus der Feder Honoré de Balzacs (1799–1850). Der Rühmsche Kommentar in „Konrad Bayer. Sämtliche Werke“ bringt mir mit keinem Wort das sinnliche Muster nahe, das Bayers’ Literatur für mich aber enthält. Kubelkas Spurentheorie, Zeichen in ihrer Erscheinung von ihrer gewohnten Bedeutung zu trennen, darauf wie im Film, Bild von Ton separiert, miteinander auf sprachlicher Ebene neu zu verknüpfen, ermöglicht das Prinzip im Roman der sechste sinn (1963) zu entdecken.
II.
Ich gebe zu, die Prosodie der Jakobinermütze hat mich mit ihrer Klang-Magie gefesselt. Inhaltlich war ich verwirrt. Die Jakobinermütze steht als Zeichen für Freiheit. Die rote mit einer dreifarbigen Kokarde versehene Kopfbedeckung wurde 1791/92 nach dem heimlichen Versammlungsort des politischen Clubs um Robespierre (1758–1794) im Kloster Saint-Jacques in Paris benannt. Als „Jakobiner“ bezeichnete man die Anhänger des Stoßtrupps der Französischen Revolution (1789-1799), die ihre Terrorherrschaft mit Massakern errichteten. Der Beschwörungsrausch des Gedichtes harmonisiert das Terreur-Regime der französischen Revolution als melodischen Klang und lässt sich vielleicht mit dem Wunsch nach Radikalität literarischer Manifestation der österreichischen 50iger Jahre, Ausbruch aus beanstandetem Mief, begründen.
Das Anagramm-Gedicht „der sarg im gras“ (R S. 461) verhandelt die Unausweichlichkeit des Seins. Die Fügung aus „gras/ sarg/ gar/ sag/ arg/ gas“ kann fast als Vorsehung für Bayers Gastod gelesen werden. Ida von Szigety (1933), Zeitzeugin und Freundin Bayers, berichtet in ihrem Buch „Chère Ida“ (2018) von den Umständen.
Das Gedicht „Ein Und“ (R S. 462) listet 38 mal untereinander „Ein Und“ auf. Die Radikalität dieser Bedeutung liegt in seiner Simplizität. Na und? Welcher Wahrheitswert eröffnete sich mir? Ist das Gedicht als eine Mahnung an den Anschluss Österreichs 1938 gemeint? Die Interpretation widerlegte sich selbst, denn ich entdeckte das Gedicht im Katalog zur Wiener Gruppe als Beitrag zur Biennale in Venedig 1997 wieder. Das Gedicht „Ein Und“ fügte sich 66 mal untereinander, diente nur als dekoratives Schriftband über eine ganze Katalogseite. Deko also?
Ein Beispiel konkreter Prosa, die für mich den Inbegriff von konkret ausmacht, findet sich in Bayers Roman der sechste sinn (1963). Eine französischsprachige Textpassage von Raymond Roussels (1877–1933) Roman Locus Solus (1913) ist mit unscharfen Lettern abgedruckt. Die Zeichen verschwimmen buchstäblich vor den Augen des Lesers. Die verdruckte Stelle des Locus Solus wird als Illustration eines Sachverhaltes in die Erzählsituation gebettet. Die Protagonistin Nina ordnet die Erzählebene, sie mischt sich quasi in die verdruckte Stelle ein, klar und deutlich und scharf sind die Buchstaben zu lesen, als sie dem in ihrer Textebene befindlichen Leser der verdruckten Stelle von Locus Solus regelrecht zuruft:
Setz doch endlich deine Brille auf.
Der lesende Protagonist kommentiert Ninas Aufforderung mit:
nina ist jetzt wirklich zornig geworden
und antwortet ihr dialogisch:
"Ich bin aber nicht weitsichtig." "Setz deine brille auf!" nina wollte, dass ich meine brille aufsetze. "Ich kann auch ohne brille sehr gut lesen." "Aber nicht alles!" was hat nur meine gute nina. Ich kann sehr viel ohne brillen lesen. (R S. 612 f.)
Die Verschmelzung von Literatur (Locus Solus) und zeitgleicher Wirklichkeit (Lesen, Verstehen, Reden) kann entzücken. Die narrative Leistung der Schrift legitimierte sich durch ihr Erscheinungsbild. Die Lektüre hielt, was sie zu sein behauptete – ein Locus Solus. Verdruckt, unscharf, defizitär und wahr, aus jeder Perspektive. Ich befand mich im Kopf des Protagonisten, Franz Goldenberg, den ich gleichzeitig von außen, also mit seinen Augen sehen konnte, was er sah und wie er sah. Konkrete Darstellung von Weitsichtigkeit im Text, während ich Aussagen dazu weiterlas, ohne über plumpe Illustration von Weitsichtigkeit zu stolpern.
Die Wiener Gruppe (Rühm, Achleitner, Wiener, Bayer – inwieweit Artmann dazugehörte, oder nur Gast war, wird debattiert) betreibt Sprachskeptizismus der 50iger Jahre. Nie ist Sprache Abbildung, fungiert daher eher als Parodie von Zielstrebigkeit. Sprache wird aus dem Zusammenhang gerissen, montiert und dem „inventionismus“ zugeschrieben. „systematisierung der alogischen begriffsfolgen des radikalen surrealismus“ wurde laut Rühm (S. 357) verfolgt. Die zertrümmerten Merkmale eines Textes entfalteten seine sonderbare Wirkung. Bayer laborierte mit dem Verdacht, dass Sprache an sich bedeutungslos sei, erzeuge diese nur durch die Konstellation eines Kontextes. Lediglich die „Neueinschätzung der Möglichkeit (der Sprache) innerhalb der ihr aufgeworfenen Grenzen“ mache Kommunikation möglich, meint Rühm in seinem Vorwort zu Bayer. In verbieterischer Geste wehrt sich Bayers Sprache gegen das Verstehen von Regeln. In seinem beistrichlosen Theatertext „Idiot“ (R S. 250) wird gepoltert:
habe ich dir erlaubt dir aus meinem gerede irgendeinen beistrich herauszunehmen und für dich irgendein verständnis zusammenzukleistern?
Idiot zu sein, heißt es an anderer Stelle, bedeute, bei sich selber zu sein. Kann ein solches Dictum helfen, sich dem Gruppenzwang zu entziehen? Elfriede Gerstl (1932–2009) eine Zeitgenossin und Randfigur beschreibt die Männertruppe in ihrem Essay „Boheme“ (Gerstl S. 34 f.) als die
... geniale Firma „Wiener Gruppe“ mit ihren Spezialisten: durch ihre feste Bindung an die von ihr verneinte kleinbürgerliche Angestellten/Dienstleistungs-Kultur und den Gestus der Überlegenheit darob.
Gerstl war kein einziges Mal im exklusiv avantgardistischen Art-Club, der seit 1952 nicht mehr für jedermann zugänglich war, wie sie schreibt. Als unbekannte junge Schriftstellerin hätte sie einen Schlepper gebraucht, um eingeschleust zu werden. In der Fibel „starker Toback“ (1963), Punkt 45, über den Umgang mit UNS, legten Konrad Bayer und Oswald Wiener (1935–2021) Verhaltensregeln für Frauen und Männern im Umgang mit den Avantgardisten fest: „1.Immer grüßen, aber nicht auffällig! 2. Wegschauen, wenn man nicht beachtet wird. 3. Wenn Frau, dann sehr höflich sein! 4. Unaufgefordert schweigen! 5. Wenn Mann, dann immer höflich sein! 6. Bescheiden sein! 7. Sehr nachdenken!“
Dass Bayers Zweifel am Gestus dieser Herr-Knecht, Mann-Frau-Mentalität wachsen musste, wundert nicht. Tradierte Gewalt kann nicht die Harmonie der gesellschaftlichen Widersprüche niederreißen. Die Empfänger der Anweisungen sollten sich schließlich unterwerfen, so Robert Menasse (1954), der nachweist, dass sich die Wiener Gruppe an totalitäre Gewalt herantastete (Sozialpartnerschaftliche Ästhetik, S. 93). Dressurakte wurden verrichtet. Die jüdische Jung-Schriftstellerin Elfriede Gerstl wohnte den „actes de dressage“ in den literarischen Cabarets nicht-jüdischer Männer mit HJ-Erfahrung bei. Sie beschreibt eher spöttisch, wenn auch beeindruckt, von den Besuchen dieser literarischen Cabarets in Essays und den dem Roman Spielräume (1993).
Andreas Okopenkos (1930–2019) großartiger Roman Kindernazi (1996) spielte mir die Rezeptur für Literatur zu, die unheimliches Erfahrungswissen thematisiert: Keine Gnade mit sich selber. Übung in Reflexion und Genauigkeit in der Wiedergabe von Epsioden historisch relevanten Erlebens eines Kinderzeugens werden literarisch verarbeitet. Bayer lässt keine Kindernazis aber Matrosen, Kasperl, Napoleon und Max Ernsts Lion de Belfort (aus dem surrealistischen Collageroman von 1934: Une semaine de bonté ou Les septs éléments capitaux) auftreten. Sprachverspielte, synthetisch gebastelte Funktionsträger werden geschaffen, Bräutigall und Annonymphe, ein Liebepaar auf des Meeres Lebensdauerwellen erdichtet, der Forscher Vitus Bering, ein in russischen Diensten stehender Marineoffizier und Entdecker, dänischer Herkunft, liefern das Kopfstimmenkino Konrad Bayers. Die Große Nordische Expedition des Vitus Bering (1733–1743) gilt als aufwändigste Forschungsreise im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts. Der Verschleiß an Mensch und Material war enorm, Kälte und Verrohung zugunsten wissenschaftlichen Pragamitismus‘ und Forscherdrangs schlugen sich Bahn. Bayer verwandelt die Expedition in ein experimentelles, multiperspektivisches Sprachkunstwerk, das kalt, präzise, gebrochen, assoziativ ist. „gegen ende“, so Bayer, „soll das ganze auch sprachlich vereisen.“
Die Figuren sind stereotyp. Ihre Distanz zu sich selber zeichnet sie kalt und dissoziiert, als stünden sie wie Sprecher neben ihren Körpern. Ihr schräger Sinn für den Unsinn ergibt den Witz für das Geschehen. Im zweiten Roman Bayers der sechste sinn wird ein Herd aus Holz gebaut, um Wasser darauf zu erhitzen. Alles verbrennt und das gekochte Wasser löscht dann das Feuer. Die Absurdität wird aus den Widersprüchen generiert.
dobyhal kam rüber. "ich habe einen ofen gebaut," keuchte er vor erregung. Nina und ich gingen hinüber. der ofen war ganz aus holz. er machte feuer und der ofen verbrannte. die suppe ergoss sich ins feuer. (R S. 615)
Der Sachverhalt ist klar, die Bedeutung wörtlich zu nehmen. Der Autor verwebt die Umstände zur Entsorgung eines Ofens. Bayers beherrscht das Gefühl für Komik und damit deren Dramaturgie. Figuren kapieren nicht, was sie sagen. Die Fallhöhe ihres Begehrens, sie möchten klug sein, ist daher groß. Genau wie die Commedia dell’Arte verfügen die Wiener Stegreif-Spiele im 18. Jahrhundert über Stereotype und bildeten den besondere Charakter des Hanswurst, den Kasperl, heraus. Er bringt mit seinem Chaotismus die Ideologie ständischer Hierarchien durcheinander, zerreißt „jede tradierte Dramenpoetik mit ihren wirkungsästhetischen Ansprüchen“ (Zeyringer S. 68, Sonnleitner in Haswurstiaden, 1996, S. 352f. zitierend).
Bayer nützt die Form der Stegreifburleske für eine wilde Theatralik, die den dramaturgischen Rahmen sprengt. Regieanweisung wird zum Dialog und umgekehrt. Die Technik der Loslösung von üblicher Verwendung der Textsorte mixt Konrad Bayer in den 1950/60 Jahren mit Rückgriff auf die Figur des Hanswursts im Stück: „Kasperl am elektrischen Stuhl“ (R S.296). Bayer schloss damit an die Stereotypen des Kasperls, Punch und Pierrot, die die Werke der Autoren der Wiener Gruppe durchziehen, an. Die Gruppe berief sich auf das anarchistische Potential dieser Figuren und forderte Veröffentlichungs- und Auftrittsmöglichkeiten. Die Journalistin Dora Zeeman berichtete zum ersten Mal im NEUEN KURIER am 23. Juni 1958 von der sogenannten Wiener Gruppe (s.o).
III.
Die österreichische Literatur der Nachkriegszeit war von ehemals völkischen Autoren im P.E.N Club dominiert. Das Ausweichquartier für Formen künstlerischen Ausdrucks war das Kellerlokal „Strohkoffer“. Zwischen den Haltungen von einem „Niemals Vergessen“ bis „Hinein in die Volksdemokratie“ stellte er für die der Avantgarde zugezählten Männer einen Lichtblick dar. Der austrofaschistische Kulturfunktionär Rudolf Henz hatte bereits 1946 gegen die im Künstlerhaus stattfindende Ausstellung „Niemals Vergessen“ gehetzt. (Z S. 607) Sich in Österreich gegen diese Front zu positionieren verlangte Widerstandsgeist. Aber die Stimmen der Exilliteratur blieben unberücksichtigt und damit ungehört. Forum Stadtpark und Wiener Gruppe formten ihren Ausdruck gegen regressive Kulturpolitik mit dem Anschluss an die vom Nationalsozialismus unterbrochene Moderne:
...das subventionsbuget floss weiter ausschliesslich leuten wie hofrat professor felmayr für seine provinzilelle reihe „neue dichtung aus österreich“ (bereits über 100 bändchen) im berglandverlag zu....schreibt rühm. (Gerhard Rühm (Hrsg.): Die Wiener Gruppe)
Die kulturelle Szene in Wien war besetzt und eng. Man musste weg, man ging nach Berlin. Rühm, Artmann, Wiener. Konrad Bayer nur für kurze Zeit, worüber er sich in den Briefen an Ida von Szigety beklagt. Er befundet im zynisch lakonischen Pamphlet „Mentalitätsbindung“ seine eigene vaterländische Front der Ironie aus verfemten Berühmtheiten wie dem Psychoanalytiker Sigmund Freud und dem heroischen Baumeister Fischer von Erlach. (R S. 16) Das Österreichische sei das Wahre, Schöne und Gute. Pure Subjektivität und Ironie.
EINMANNSTAAT (besprechung mit völkerrechtler) ich sitze und nähe meine fahne. ich habe erkannt, dass ich ja letztenendes (sich deklarieren, kann ich das, geheim, exilregierung.) glaubenskrieg, für eine überzeugung, ein ideal kämpfen, sollte keine frage der quantität sondern der qualität sein. also auch immer gegen alle. (R S. 17)
Das Österreich der 50iger beförderte eine Ideologie der „Stabilisierung nach rückwärts“, betrieb eine entsprechende Kulturpolitik. Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hielt 1950 Karl Heinrich Waggerl den Prolog „Lob der Heimat“, eine Preisung ständestaatlicher Ordnung, Naturidyll beschwörend. Der gleiche Text war unter dem Titel „Sonnenwendrede auf das Salzburger Land“ und in der Zeitschrift Ewiges Deutschland schon im Juni 1939, ein Jahr nach dem Anschluss Österreichs an das deutsche Reich, veröffentlicht worden. (Z S. 600)
Der erlebte Faschismus entlockte der männlichen Gruppe einen Dogmatismus, der Manifeste hervorbrachte, die Mitglieder nötigte, Unterschriften zu leisten, die zur „enthaltung von stellungsnahmen jeder art (Menasse zitiert Oswald Wieners „COOLEs Manifest“, SÄ S. 93) dienten. Totale Unterwerfung war gefordert, um zu den Fans der Wiener Gruppe dazuzugehören.
Bayer hatte seinen Platz in der Gruppe gesichert, zumindest bis man ihn wegen der „Affaire Regscheck“ ausgeschlossen hatte. Der von den Wiener Gruppe verachtete Maler Kurt Regscheck (1923–2005) stammte aus dem Kreis des phantastischen Realismus um Ernst Fuchs und Wolfgang Hutter, in deren Galerie Konrad Bayer gearbeitet hatte.
Zur beliebten Unterwerfung und Disziplinierung der Wiener Gruppe gehörte auch die „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“, von HC Artmann. Disparates wäre demnach zusammenzuspannen und poetisch nutzbar anzuwenden. Das war poetischer Grundsatz. (Z S. 628) Das „COOLE Manifest“ wurde unterschrieben, darin wurden Kalauer als Leckerbissen gewürdigt. Widerrede sei ausgeschlossen. (R S. 719) 1955 wurde das Manifest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs von HC Artmann (1921–2000) in Versform verkündet:
Wir protestieren mit allem nachdruck gegen das makabere kasperltheater welches bei wiedereinführung einer wie auch immer gearteten wehrmacht auf österreichischem boden zur aufführung gelangen würde (Z S. 629) und (R S. 719)
Artmann war Deserteur der Wehrmacht des 2. WK. Sein Dialekt-Gedicht Band Mit ana schwoazn tinten erschien 1952, erzielte einen großen und bahnbrechenden Erfolg. Dem Erfolg war wohl dienlich, dass er die Desertation als Wehrmachtssoldat geheim halten konnte.
Arnold Schönberg (1874–1951), seit Hitlers Machtübernahme 1933 als jüdischer Komponist in die USA emigriert, ließ noch 1931 ein Plädoyer für das Wagnis moderner Musik im Rundfunk senden. Er vergleicht darin den Erfinder der Zwölftonmusik mit einem Höhlenforscher, der durch einen engen dunklen Stollen vordringen müsse, um unbekanntes Terrain auszuleuchten und von seinen Untersuchungen den Zurückgebliebenen zu berichten. Niemand nähme sonst dieses Wagnis auf sich, daher seien alle auf seine Pionierleistung angewiesen. Der Forscher stelle somit eine Minderheit zur Mehrheit dar, deren Rechte er nicht beschneiden mochte, aber deren Grenze er aufzeigen wolle, da sie nicht dazu bereit wäre, selbst zu forschen. Für das Wagnis moderner Musik zu begegnen sei daher keine Mehrheit zu finden. In der Schiff- oder Luftfahrt erkenne die Mehrheit rasch den Nutzen solcher Unternehmungen. Obwohl von diesen „Pfadfindern“ auch die Irrsinnspfade bekannt wären, wendet sich die Mehrheit mit Feindseligkeit gegen die Forscher und Künstler, die auf geistigem Gebiet ins Unbekannte vorstoßen.4 Schönberg verteidigt das Recht des Künstlers und mahnt bereits den Kulturauftrag der Massenmedien gegen den „Ohrschmaus, den die Mehrheit im Rundfunk serviert bekommen mag“ ein. Die Anerkennung dieser künstlerischen Leistungen ist in einer restaurativ dem Fremdenverkehr zuarbeitenden Kulturpolitik immer einzufordern. Kunst ist eine soziale Kategorie, die ausverhandelt werden müsse. (vgl. Rühm S. 18)
IV.
Konrad Bayer erforschte das Universum des Expeditionsleiter zur Nordostpassage mit dem Roman der kopf des vitus bering. Er verfolgt darin eine konsequent durchgezogene Perspektive, die das sprachliche Vereisen des Vitus Bering vorführt. Die historische Vorlage des in russischen Diensten stehenden Marineoffiziers und Entdeckers wurde aus historischen Quellen und Textbausteinen zu einer multiperspektivischen, assoziativ erzählenden Prosa komponiert. Bering leitete die Große Nordische Expedition (1733–1743), die jahrhundertelang als aufwändigste Forschungsreise im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts galt. Die Sprachvereisung wird radikal durchgezogen.
Konrad Bayer brach mit dem Stück „Kasperl am elektrischen Stuhl“ (R S. 296) Theaterregeln, indem er das Publikum auf die Bühne setzte. Kasperl, vollzieht eine Selbstanzeige wegen der Ermordung der Ehefrau, landet im Käfig, wo er sich lieber selber hinrichtet, als von seiner plötzlich wieder auftauchenden Frau befreit zu werden. Absurde Dialoge feiern den Eigensinn des Stückes und ergeben eine lustvoll den logischen Verläufen enthobene Sprache. Kann man sich Bayer als eiskalten Zyniker denken? Die Malerin Ida von Szigety schildert den Zeitgenossen Bayer als Romantiker, mit Hang zur Übertreibung. Er holte die Geliebte mit der Kutsche ab, überreichte mauvefarbene Handschuhe, bevor man in die Oper fuhr und hernach ins Restaurant. Bayer lebte als Bankangestellter noch bei seiner Mutter. Ein Lotteriegewinn begünstigte die Künstlerschaft. Seine Beziehung mit der sehr großzügigen Traudl Bayer, geb. Kober, Tochter einer reichen Kaufmannsfamilie in Wien, währte bis zu seinem Tode. Er trug immer Anzug, besaß dessen mehrere, auch weil er als Angestellter der Creditanstalt einem Codex entsprechen musste. Zur Erscheinung gehörte ein Hut, den er beim Küssen angeblich abnahm wie im Film Sonne halt! (1959). Bayer spielte die Hauptrolle unter der Regie von Ferry Radax. Der Off-Ton liefert durchwegs Passagen aus dem Roman der sechste sinn, gelesen von Konrad Bayer selbst.
Die „Chansons“ Bayers finden bis heute ihre Bühnenauftritte wie schon in den „literarischen Cabarets“ der Wiener Gruppe. Bayer spielte Banjo in der Band von Oswald Wiener und dichtete Geschichten im Stil der Moritat, getränkt von schwarzem Humor und todernstem Irrwitz.
die moritat vom tätowierten mädchen ein mädchen wollte auf der haut das bildnis einer rose tragen doch war sie eines spengerlers braut der wollte seinen vater fragen ob man die ehre der familie nicht besser kleide mit der lilie. da lief das gute mädchen fort, gab ihm zurück sein bräutigamswort. sie warf sich einem herren hin... (R S. 89)
Der Reim ist eingängig, die Einfälle sind konzentriert, die Pointen befriedigen den Genuss bis zum Schluss.
moral: der wille ist ein eitler wahn und richtet argen schaden an (R S. 90)
Bayer beschreibt eine trostlose Welt, bildstark auf den disparaten Alltag reagierend, Spannung aufbauend, bis zum Bruch mit der Erwartung.
marie dein liebster wartet schon mit einer stange von beton in seiner guten sanften hand im haar trägt er ein seidenband er schlägt den prügel dir ums ohr da spritzt das blut gar hell empor dein neuer hut er ging entzwei ihm war alles einerlei .... nun liegst du hier und kannst nicht fort die straße ist ein schlimmer ort zu sterben denn es schickt sich nicht dass man im freien augen bricht warum ist diese welt so schlecht warum war er so ungerecht (R S. 95)
Die Fassungslosigkeit eines Opfers wird süffisant bedauert. Die Erfüllung romantischer Liebe ist in der brutalen Gesellschaft nicht möglich. Ein volksmündlicher Spießer kommentiert mit letztem Zynismus,
dass sich das sterben nicht schickt auf der straße. (R S. 95)
Bayers Poesie liefert keine Rettung. Trost wird in Süffisanz gekehrt, deren Bösartigkeit Ausgleich höchstens in der poetischen Schönheit anbietet.
plötzlich ging die sonne aus plötzlich ging die sonne aus wie eine gaslaterne und ein rauchpilz zischte auf. Es war nicht gar so ferne. dann trocknet mir das rückgrat ein. Ich denk das wird heiter, das kann doch bloss der anfang sein, da gings auch fröhlich weiter. der mond fiel auf die erde drauf mit kosmischen geknalle. der horizont schob sich zuhauf, jetzt sitz ich in der falle. mir platzt das dritte äderchen, das blut schießt aus den ohren. ich denk mir, liebes väterchen, gleich kommt es aus den poren. und während mir die haut abgeht und ich mich sacht verkrümme und rechts und links die welt vergeht, da hör ich eine stimme: liebster, sag mir, liebst du mich? sag mir, lass mich’s wissen. ich, du weißt es, liebe dich, und ich will dich küssen. (R S. 96)
Bayer erlebte nicht seinen literarischen Durchbruch. Erich Fried versagte ihm den Erfolg bei der Gruppe 47. Doch fand sein Werk Lob bei Dieter E. Zimmer (1934−2020, mein bester Nabokov-Übersetzer). Im Nachruf auf Bayer publizierte der Autor, Kritiker und Übersetzer in der Zeit vom 23. Oktober 1964:
Was er (Bayer) geschrieben hat, ist nur zu einem geringen Teil gedruckt worden, und das meiste davon mehr oder minder unter Ausschluß der Öffentlichkeit, in esoterischen Zeitschriften, Reihen und Anthologien, von denen sich der normale Bücherleser nichts träumen läßt. Ein einziges dünnes Buch gibt es von ihm: die pseudo-alchimistische Dichtung „der stein der weisen“, verlegt bei Wolfgang Fietkau in Berlin. Seine montierte Biographie „Vitus Behring oder die Theorie der Schiffahrt“ soll noch im nächsten Frühjahr im Walter-Verlag erscheinen. Und Ledig-Rowohlt, unter den Verlegern einer, der zwar einen großen Produktionsapparat bedient, dem dabei aber doch die bürokratisierten Formen des sogenannten literarischen Lebens ein Greuel geblieben sind, der sich die Sympathie bewahrt hat auch für abartigere Lebensäußerungen, wollte einen Kurz- Roman von Bayer veröffentlichen, „der sechste sinn“. Ausschnitte daraus stehen in den akzenten (1/64) und in der ZEIT (46/63); Bayer hatte sie im vorigen November in Saulgau gelesen, vor der Gruppe 47, die erstaunt war und vielleicht zu überschwenglich lobte („eine neue Kosmologie!“), als daß die Reaktion ausbleiben konnte („Kabarett!“): In diesem Jahr, in Sigtuna, soll harte Kritik an Bayer verübt worden sein.5
Der Literaturbetrieb gilt als wölfisch, er ist ein Menschenfresser. In Magic afternoon (1968) beschreibt Wolfgang Bauer (1941−2005) in Anspielung auf Konrad Bayer die Praxis tödlicher Manipulation im Kunstbetrieb:
Charly:... da Konrad und noch einer haben ihn im Art-Club gsehn... da sagt da Konrad plötzlich...waßt was, den bau ma auf... Brigit: Wie? Charly: Den bauns auf...den machens richtig...er wollt aus ihm an Künstler machen und alles ....und alles so vorplanen dass er a bekannter künstler wird... und dass er sich am schluss dann umbringt...genau aufbaun...aber umbracht hat sich der Konrad und net da Teddy....
Man möchte sich Konrad Bayer als integre Ausnahme im Kunstbetrieb vorstellen.
V.
René Magrittes (1898−1967) Gemälde „L’au delà“ (1938), auf Deutsch „Jenseits“ oder „Darüber hinaus“, zeigt eine Sonne in diesigem Licht. Darunter liegt auf ebenem Boden eine Grabplatte.
Die Sonne bleibt, sie lacht, sie brennt. Mehr „Jenseits“, dem ins Auge zu sehen ist, gibt es nicht.
In Sonne Halt, wird die Sonne vom Himmel geschossen. Sie fällt in die Hände einer erotischen Eva. In einer anderen Szene beeindruckt der Mond die nächste elegant kühle Schönheit. Aber sie reagiert nicht adäquat und so bleibt der Protagonist im schönen Anzug ein heimatloser Matrose. Dazu ertönt aus dem OFF der Monolog aus der sechste Sinn. Der Titel steht für die Programmatik des inkohärenten Prosatextes zu den inkohärenten Bildern des Filmes. Die Kombination öffnet einen Raum für „außersinnliche“ Wahrnehmung, die eine scheinbar willkürliche Textorganisation von Episoden, Anekdoten, Sprachspielen und konkret poetischen Passagen zulässt.
Die Spuren von Sonne halt wurden mit der Tonspur Konrad Bayers verflochten, um „eine möglichst vollkommene Synthese zwischen gesprochener Literatur und symbolischer Filmform zu finden“ erklärt in einem Interview der Regisseur Ferry Radax zur Aufgabe (Sixpackfilm).
Im sogenannten „Zwischenspiel“ von der stein der weisen wird ein Theaterstück mit dem Titel „die Sonne brennt“ zu schreiben angekündigt. Ein Welttheater soll geschrieben werden. Die Aufführung wird imaginiert. Das Publikum soll dazu auf der Bühne und im Zuschauerraum einander gegenüber die Plätze einnehmen. Alle starren auf den sie trennenden Vorhang. Er soll sich heben und am Ende wird die Menschheit Aug in Aug sich selber gegenübersitzen, heißt es. Die Ankündigung dieses Vorhabens ist das Stück selbst. Es endet als Vorstellung der beschriebenen Aufführung:
hiermit ist das theaterstück/ „die sonne brennt“ geschrieben. (R S. 524)
Im Vorwort von der stein der weisen trifft man auf eine wunderschöne Stelle, die an den essentiellen Gehalt nicht mehr glaubt, Essentialismus als Wortspiel austreibt, aber etwas Mittiges umkreist.
vorwort auftreten mehrere körper jeder dieser mehrerer körper hat ein bewusstsein. diese mehrere bewusstsein sind unsichtbar. .... jedes dieses bewußtsein heißt ich (der stein der weisen, S. 7/ 520)
Im Gedicht „Topologie der Sprache“ wird das Wortmaterial der Bauwirtschaft und mit der Einfärbung in eine Blauwirtschaft durchdekliniert: blaustein, blauwerk, blaugerüst, blaugrund, blaumeister. (R S. 463) Blau ist die Farbe der Freimaurer, einer dem Humanismus verschriebenen Gesellschaft, die am imaginären Bau der Menschlichkeit arbeitet und dazu ihre inneren rauhen Steine, die persönliche Unvollkommenheit, behauen, um mit ihren reflektierten Charakteren und Haltungen eine Architektur der Menschlichkeit zu errichten. Das Buch Konrad Bayer: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Gerhard Rühm (1995) entspricht in seinen Maßen dem Format eines blauen Ziegels, es ist überarbeitet und mit einem höchst aufschlussreichen Kommentar vom Herausgeber versehen.
Im Roman der kopf des vitus bering erklärt sich der Protagonist anhand eines mechanistischen Modells die Welt. Sie ist eine Gottesmaschine aus Sprache und Schrift. Zunehmend wird die Vorstellung einer solchen Gottesmaschine absurder. Die Maschine enthält ein System aus Zahnrädern, Seiltrommeln, Wasserbehältern und Gewichten. Ein Vögelchen aus Metall krönt die Schöpfung: „ABCD ist der gotteskasten, in welchem eine welle EF liegt. an ihr ist das rad HK befestigt, das der gläubige drehen soll“. Der Gläubige wird in den Gotteskasten Sprache aufgenommen und wie getauft aus diesem hervorkommen. „diesen apparat hat heron später erweitert, indem er es so einrichtete, dass der gläubige gleichzeitig mit dem vogelgesang aus einer verborgenen dusche mit geweihtem wasser besprengt wurde. (R S. 544)
Wie hätte sich Bayers Werk weiterentwickelt, wäre er nicht mit 32 schon gestorben? In seinem satirisch-philosophischen Traktat „Menschen sind Maschinen der Engel“ erklärt Jean Paul Menschen zu Engeln und ihre Maschinen zu Menschen. Menschliche Körper- und Sinnesfunkionen haben die Automaten übernommen. Das Spielzeug der Sprache ist die Schreibmaschine, oder der Stift, oder die Notation, sie richtet Geschichten an und gibt dem Dichter die Allmacht der Komposition. Im 18. Jahrhundert waren die Automaten des Uhrmachermeisters Jaquet Droz in Neuchatel, Schweiz, weltberühmt. Die Künstlerkinder konnten Klavier spielen, schreiben und zeichnen. Vielleicht hatte Konrad Bayer von ihnen gehört, bevor er einen Gotteskasten als Schrift-und Sprachgenerator beschrieb. Bayers Literatur umfasst also Listen, konkrete Prosa, Texte zwischen Traktat und Untersuchung, Aphoristik, und auf der Suche, wie er zu seinen Ideen kam, stieß ich auf das Zitat, von dem ich die Quelle nicht mehr weiß: „die wahl der figur vitus bering (ist) nur als standort zu werten, von dem aus beziehungen hergestellt werden, wie der fischer ein netz wirft, in der hoffnung etwas zu fangen.“
So setzt der Dichter am Anfang einen Schlusspunkt. Jedes Werk ist eine Reise, nur Anfang und Ende sind die Angeln. Bayer sitzt als Autor im Kino seines Blickes und wirft Bilder auf die Leinwand, bis Dinge geschehen, die aufleuchten und mir ins Bewusstsein treten. Bayer experimentierte mit Drogen, inszenierte Situationen, bahrte sich auf, um in die Innenschau eines Toten zu kommen. Das Ausdenken der Diegesen als Universen seiner Figuren folgt keiner Psychologie, die Ereignisse und Handlungen erklärt.
Friedrich Achleitner berichtete als Zeitgenosse von einem Gespräch mit Konrad Bayer, in dem dieser seine Verzweiflung und den Wunsch kundgetan hatte, einmal etwas Großes, Wahrhaftiges zu schreiben. Die Produktivität und die bereits entstandenen Werke konnten ihn nicht zuversichtlich in die Werkzukunft schauen lassen, getroffen von der harschen Kritik der Gruppe 47, sehnte er sich nach einem Werk, das nicht mehr fortgesetzt werden sollte.6
Man ist allein beim Schreiben. Andreas Okopenko gab das beste Rezept aller Zeiten für Literatur preis: Eine gute Idee ist durch nichts ersetzbar.
Bayer hatte viele gute Ideen, sie sind nachzulesen im Archiv seiner Stimme.
Fin
Wien, April 2022
Diesem Text liegt folgende Literatur zugrunde:
Konrad Bayer: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Gerhard Rühm. Wien, 1985 und 1996. In der Folge zitiert als (R Seitenanzahl)
Robert Menasse: Die Sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Wien 1996
Klaus Zeyringer, Helmuth Gollner: Eine Literaturgeschichte: Österreich Seit 1650. Innsbruck 2012. in der Folge zitiert als (Z Seitenanzahl)
Klaus Kastberger: Diplomarbeit zu Konrad Bayer, Universität Wien, Wien, 1986
Thomas Eder, Klaus Kastberger (Hg): Texte, Bilder, Sounds. Wien, 2015
Elfriede Gerstl: Spielräume. Graz, 1993
Elfriede Gerstl: Unter einem Hut. Wien, 1993
Ida Szigety (Hg): chère ida. Konrad Bayer an Ida Szigety. Weitra, 2018
Konstantin Kaiser: „«Ständestaat» und Antisemitismus in der Literatur“, in: Antisemitismus in Österreich (1933-1938). Hrsg: Gertrude Enderle-Burcel, Ilse Reiterer-Zatloukal. Wien, 2018, S.415−426.
DVD
Peter Kubelka: Film als Ereignis, Film als Sprache, Denken als Film. Hoanzl, Wien 2002
Ferry Radax. #091: Sonne halt! Hoanzl, Wien, 1959−1968
1 R S. 753 f.
2 Konstantin Kaiser: „«Ständestaat» und Antisemitismus in der Literatur“, in: Antisemitismus in Österreich (1933-1938). Hrsg: Gertrude Enderle-Burcel, Ilse Reiterer-Zatloukal. Wien, 2018. S. 415 https://piusxi.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_piusxi/2018_Artikel_Katholischer_Antisemitisums_im_Christlichen_Staendestaat_zw_theol_Praemissen.pdf
3 http://www.boa-muenchen.org/boa-kuenstlerkooperative/hmeaut0.htm#dasprogramm
4 Musik, https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/1B526D1C-02D-000D9-00000C60-1B5165C7/pool/BWEB/ )
5 Die Zeit, Hamburg, 23. Okt. 1964. https://www.zeit.de/1964/43/erinnerung-an-konrad-bayer
6 https://www.zeit.de/2007/12/D-Klassiker?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com
Der Essay EINSTIMMER von Lydia Mischkulnig erschien in einer früheren Version im Rahmen einer längerfristig angelegten Kooperation zwischen manuskripte und POESIEGALERIE in: manuskripte Nr. 235/2022 auf S.106-123.