Jelena Dabic liest in einem mantel aus fischhaut von Emily Artmann
Das relativ späte literarische Debüt der Filmemacherin Emily Artmann („der wackelatlas – sammeln und jagen mit H.C.Artmann“, sixpack film 2001) präsentiert sich als eine umfangreiche Ansammlung von lyrischen Widmungen an zahllose Personen, sehr bekannte bis kaum bekannte. Als dezenter Gruß an den berühmten Vater fungiert das ihm gewidmete Gedicht, das auch titelgebend für den Band ist. Alle 150 Texte, zum größten Teil eher kurz, tragen den Namen des Widmungsträgers, der Widmungsträgerin im Titel, stets samt Lebensdaten der Person. Originell ist dabei die Idee, die Adressaten keineswegs irgendeiner Chronologie unterzuordnen und sie auch nicht etwa nach Sprache, Kulturraum oder Betätigungsgebiet einzuteilen. So kann es ohne weiteres vorkommen, dass auf „Arturo Michelangeli Benedetti/ 1920-1995“ „Xanthippe/ 5.-4.Jh.v.Chr.“ folgt; genauso gut kann aber auch eine gewisse „Caroline Herschel / 1750-1848“ neben „Napoleon Bonaparte / 1769-1821“ höchstpersönlich stehen.
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Die Auswahl der Figuren erstreckt sich von 3,2 Mio.v.Chr. („Lucy“) bis in die unmittelbare Gegenwart („Agathe Baumann / 1921-2013“ oder „Erika Fuchs-Petri / 1906-2005“), unter den angeschriebenen Figuren sind Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler, Forscher, Musiker, aber auch Herrscher zu finden – männlichen wie weiblichen Geschlechts wohlgemerkt, ihr Lebens- und Wirkungsradius ist oft Europa, nicht selten aber die ganze Welt. Einige der Personen, denen hier ein kleines Denkmal gesetzt wird, entstammen dem orientalischen, afrikanischen, fernöstlichen oder auch dem nord-, mittel- oder südamerikanischen Raum. Da findet man etwa eine Miniatur für Juri Gagarin, an einer anderen Stelle ein etwas längeres Widmungsgedicht für Friedrich Achleitner; anderswo ist von einem gewissen Zauditu / 1876-1930 die Rede oder aber von einer Kinoshita Naoe / 1869/1937. Persönlichkeiten aus vor- oder frühchristlicher Zeit sind insgesamt mehr als ein Dutzend Gedichte gewidmet: „Vercingetorix / 82-46.v.Chr.“, „Irenäus von Lyon / 135-200“, „Bhadda Kapilani / 5.Jh.v.Chr.“, „Nikolaus von Myra / 286-365“ …
Im Laufe der Lektüre verfestigt sich der Eindruck, dass etliche der dargestellten Männer und Frauen auf einem Gemälde existieren; das Gedicht bezieht sich in dem Fall ganz konkret auf diese bestimmte Abbildung. So ist es etwa bei dem Gedicht, dass der russisch-französischen Malerin Marie Bashkirtseff / 1858-1884 gewidmet ist:
lockenumwickelter lockenwickler bonbon verpacktes glitzern siehe das ziehen das kopfhaar in jede richtung in die du ihn so haben möchtest in kurzweil und ausbleibend anderem umstand bemessen an der großzügigkeit des daseins heimfallen in eine grube aus locken
Einen ähnlichen Eindruck bekommt man auch in „Robert Falcon Scott / 1868-1912“:
nichts da! ein leeres feld gefüllt mit essensresten abgenagter träume fatae morganae kaleidoskopisch gebrochener erinnerung einem pelzlosen fuchs gleich frierst du – ersehnst bier
Dabei erschließt sich dem Leser, der Leserin manchmal auch die Frage, ob es sich beim evozierten Bild um ein Gemälde oder eher eine Fotografie handelt. Häufig werden auch Räume, erfüllt mit Stimmungen, geschildert: „lachsgraues sehnen / blanchieren des tages / im lichteinfall / blanchieren im blick / erblassen/ umher im irren“ aus dem Text „Xi Shi / um 506 v.Chr.“. Bei „John Lennon / 1940-1980“ wird ganz lakonisch das Gefühl eines Raums erzeugt: „setz dich / zu mir / iss / wenn es dir schmeckt / hör den vögeln / beim turteln zu“. Auch Landschaften und Wetterverhältnisse werden in unterschiedlichem Ausmaß kurz angedeutet oder etwas breiter ausgeführt.
Bemerkenswert ist dabei, dass viele der Texte in haikuartiger Form angelegt sind, ganz unabhängig von ihrem Widmungsträger, seinem Leben und Wirken sowie seiner geographischen und historischen Einordnung. Besonders gut sichtbar wird das an dem einem gewissen „Yoshida Kenkō / 1283-1350“ gewidmeten Gedicht:
der mond im schatten der bäume zwischen einer vision und konkretem der ruf eines tieres es ist dir unbekannt wie die sonne deren farbe du nicht weißt im licht einer shoku
Insgesamt kann man sagen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Gedichte sich als lyrische Miniaturen lesen lassen, die einen bestimmten Moment aus dem Leben einer mehr oder auch weniger berühmten Persönlichkeit mit den Mitteln der Poesie festhalten wollen. Dabei arbeitet die Autorin hauptsächlich mit verschiedensten Metaphern und gezielter sprachlicher Verknappung. Phonetische Spielereien scheinen ihr nicht wichtig zu sein – Assonanzen oder Alliterationen wird man in den Texten vergeblich suchen. Das Erfassen von bestimmten Gedanken, Ereignissen oder Sehnsüchten in einer ästhetisch anspruchsvollen Form sind hier das durchgehende Gestaltungsmittel. Es ist erstaunlich, wie sehr auch ein kurzes Gedicht dem Leser die dargestellte Person (die nicht selten direkt per du angesprochen wird) nahebringt und unweigerlich sein Interesse weckt, mehr über sie zu erfahren. In Zeiten des Internets verführen somit sehr viele dieser Gedichte zum Nachschlagen per Google. Andererseits ist das genaue Wissen um die Lebensumstände der hier präsentierten Figur gar nicht notwendig, um ein Gedicht als Gedicht zu genießen.
So gesehen funktioniert dieser Band durch seine inhaltliche Vielseitigkeit (sind es vielleicht zu viele angesprochene Persönlichkeiten?) durchaus als poetisiertes Lexikon. Das Nachschlagen bei besonderem Interesse für eine der vielen Figuren, die dadurch erfolgte Wissenserweiterung und oft die emotionale Verwicklung des interessierten Lesers, der interessierten Leserin, sind wie bei jedem guten Text, jedem guten Gedicht erwünscht und Zeichen seiner Qualität. Hier dürfte aber die offenbar von Anfang an von der Autorin gewählte Methode insgesamt zu einer gewissen Ermüdung führen, da die Zahl der eingeführten Personen immer nur weiter ansteigt und die Gedichte sich in der Länge und Stil irgendwann doch ähneln. Manchmal wünscht man sich, die Verfasserin hätte sich bei einer Figur länger aufgehalten und ihr mehrere Gedichte gewidmet, oder gar einen ganzen Gedichtzyklus. Die ästhetischen Mittel, die beinahe alle dieser etwa 150 Gedichte als sehr gelungen auszeichnen, würden sich ganz sicher auch für längere, erzählende Gedichte eignen. Im Übrigen gehört gerade das Gedicht, das H.C. Artmann / 1921-2000 gewidmet ist, neben dem einzig wirklich langen Gedicht, einer Widmung an eine gewisse Grace O’Malley / 1530-1603, laut Wikipedia eine irische Piratin, zu den längeren Gedichten des Bandes. Es charakterisiert den Dichter als wahren Stadtmenschen, Ästheten und ewigen Reisenden und erinnert auch im Stil ganz eindeutig an seine ruhigsten, schönsten Gedichte.
Emily Artmann: in einem mantel aus fischhaut. Gedichte. Mit Miniatur-Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. Edition Thanhäuser, Ottensheim/Donau 2021. 153 Seiten. Euro 24,–