Daniela Chana liest epiphanie von Marie-Thérèse Kerschbaumer
Wer den Band „epiphanie“ von Marie-Thérèse Kerschbaumer aufschlägt, sollte keine schnelle Lektüre für Zwischendurch erwarten, denn es handelt sich um ein Werk, das seinen Reiz erst umso mehr entfaltet, je gründlicher man es studiert. Kerschbaumers Lyrik entführt in eine komplexe Bilder- und Gedankenwelt voller Bezüge zu Mythologie und literarischen Klassikern.
Die Gedichte aus den Jahren 1988 bis 2021, die der Band in sich vereint, zeigen die Autorin von ganz unterschiedlichen Seiten. Manchmal sind es Spiele mit Wort und Rhythmus, die zum Schmunzeln anregen und beim Lesen Assoziationen in alle Richtungen erzeugen, dann wieder Balladen, deren Ernst durch ironische Brüche gelockert wird. Gar nicht selten entsteht der Witz aus dem Kontrast zwischen einem beschwörenden, antiquierten Ton und allzu menschlichen Gefühlen:
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Linde! Linde! Brunnen Tor und Teufel wem! nicht mir nicht mir erblühst und duftest
Was Kerschbaumer ihre Leserschaft lehrt, ist das langsame und genaue Lesen – wer nach einigen Zeilen innehält, noch einmal von vorne beginnt und sich die Zeit nimmt, über Details nachzudenken, wird belohnt. Denn das Werk ist anspielungs- und voraussetzungsreich, an vielen Stellen tauchen intertextuelle Bezüge zu Klassikern der Weltliteratur auf, die häufig durch Widmungen oder Hinweise im Titel als solche markiert sind. Indem die Dichterin etwa wiederholt das Motiv des Weißdorns aufgreift, erweckt sie einerseits historische Troubadoure zum Leben, die sie im entsprechenden Zyklus namentlich anführt, andererseits verweist sie später im Band auf Marcel Proust, in dessen „Suche nach der verlorenen Zeit“ der Duft dieser Pflanze dazu dient, die Vergangenheit heraufzubeschwören.
Das Vergehen von Zeit und das Festhalten von Momenten in Zusammenhang mit Liebe sind generell häufige Motive in Kerschbaumers Gedichten, etwa wenn sie Francesco Petrarca „nach vielen Jahren“, also nach dessen Tod, zur ebenfalls toten Laura sprechen lässt – auch hier dienen Pflanzen als Sinnbilder für die Genese der Liebe, wenn das Gedicht mit den Blüten endet, die auf ihre Gräber fallen. Vielleicht, so scheint jenes Bild nahezulegen, ist der Höhepunkt dieser unerfüllten Liebesgeschichte überhaupt erst nach dem Tod angesiedelt, in Form des unerschütterlichen Weiterlebens von Petrarcas Sonetten. Nicht immer jedoch besteht die Intertextualität im Aufgreifen von Motiven, manchmal dient eine einzelne Zeile eines klassischen Werks als Ausgangspunkt für das eigene Schaffen, dann wieder sind es die realen Ereignisse, die eine lyrische Reaktion auslösen, etwa wenn der im Vorjahr verstorbenen Friederike Mayröcker ein Gedicht gewidmet wird.
Gerne erzeugt Kerschbaumer zudem Collagen aus verschiedenen Sprachen, fügt hier und da etwas Italienisch, Englisch oder Französisch ein und fordert dadurch ihr Publikum heraus. Manche Wortkonstruktionen gemahnen vage an Mittelhochdeutsch oder bleiben rätselhaft, als handle es sich um eine Kunstsprache. So heißt es etwa in „Windwärts“:
wirbelnder Woog Woiwod der Brigg wuchtige Wuhne im Wuhr
Eine große Stärke der Dichterin besteht darin, Rhythmus mit Bedeutung zu verknüpfen. In einigen Gedichten, wie etwa der den Band einleitenden „Anrufung des Wassers“, gelingt es ihr, einen geradezu beschwörenden Ton zu erzeugen. Durch Wiederholungen und Verschiebungen einzelner Worte oder Silben nähert sie sich lautmalerisch den hin- und herstreichenden Wellenbewegungen des Wassers an, zugleich entsteht der Eindruck einer Hymne:
Lebende labende Tropfende jagende Triefende tragende Welle und Flut.
Dies passt zum Titel des Bandes, „epiphanie“, womit die unerwartete Erscheinung einer Gottheit bezeichnet wird. Tatsächlich wohnt Gedichten wie „Anrufung des Wassers“ etwas Metaphysisches inne. Statt eines abstrakten Gottes wird die Natur beschworen und zelebriert, generell spricht aus Kerschbaumers Texten immer wieder eine tiefe Wertschätzung für die Pflanzen- und Tierwelt sowie Landschaften und Gezeiten, die heute angesichts der Bedrohung durch den Klimawandel aktueller wirken mag denn je.
Damit ist bereits ein weiteres Phänomen angesprochen, das die Gedichte von Marie-Thérèse Kerschbaumer auszeichnet: Bei aller Rückbesinnung auf die Klassik geht doch der Bezug zum Heute nicht verloren. Denn Verse wie die folgenden sind so zeitlos, dass es immer ein wertvolles Erlebnis sein wird, darüber nachzudenken:
Denn zu lieben sich entschließen heißt nicht mehr zu lieben eines Tags
Marie-Thérèse Kerschbaumer: epiphanie. Gedichte 1988 bis 2021. Wieser Verlag. Klagenfurt 2022. 80 Seiten. Euro 21,-