Monika Vasik liest berichte von der innenfront von Christl Greller
„In allen Dingen lebt ein Lied“, heißt ein Song von Udo Jürgens. Im Nachklang der intensiv erlebten Zweisamkeit einer Nacht setzt er sich ans Klavier, seine Finger fliegen wie „in Trance“ über die Tasten und verwandeln die Erinnerung an den Duft der Geliebten und diese eine gemeinsam verbrachte Nacht in eine Komposition, die ihm gelingt „so leicht wie lang nicht mehr“ und die Erinnerung haltbar macht. Gewiss werden Künstler*innen anderer Genres ebenfalls zu berichten wissen, dass ein Text, ein Bild, eine Skulptur nach einem bewegenden Ereignis wie von selbst entstand, als hätte ein passender Schlüssel die Welt der Inspiration und Kreativität geöffnet. Der Schlager von Udo Jürgens knüpft an einem Gedicht der Romantik an, nämlich der bekannten, aus vier Versen bestehenden „Wünschelrute“, 1835 verfasst vom Dichter Joseph von Eichendorff:
Schläft ein Lied in allen Dingen die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.
Das im Kreuzreim nach dem Schema abab gereimte Gedicht besingt die verborgene Poesie der Welt und die zauberhafte Magie der Sprache, die alle eben noch träumenden Dinge zu erwecken und aus ihnen das Besondere zu machen imstande ist.
Auch Christl Greller knüpft daran an, wenn sie in ihrem neuen, nunmehr achten Lyrikband dichtet: „in allen dingen ruht poesie.“ Man kann diesen Vers als einen von drei Leitgedanken bezeichnen, die dem Buch Kontur und Richtung geben. Er entstammt Grellers Gedicht „blind sein“, in dem die für ihre Texte bereits mehrfach ausgezeichnete Dichterin erzählt, dass sie ein „schönes“ Gedicht über einen Sessellift geschrieben habe. Ein Mann habe das Sujet verlacht, doch sie beharrt in Anlehnung an Eichendorff und es klingt beinahe trotzig:
in allen dingen ruht poesie. er hat sie nur nicht gesehen.
Den zweiten Leitgedanken lesen wir im Gedicht „morgenöffnung im veneto“. Auch hier sehen wir den hartnäckigen Bestemm der Dichterin auf ihre andere, nämlich grundlegend lyrische Weltsicht, die Gegenpol zur Nichtpoesie der Gegenwart ist, denn „poetisch will ich es haben“. Dieser Satz kann sowohl Erklärung als auch ein Imperativ sein, gerichtet an sich selbst. Gedichte sind für die Lyrikerin Lebens-, immer wieder auch Überlebensmittel, weil sie ein Mensch der Sprache ist, den bewussten Umgang mit Worten ersehnt, ja genießt, und mit und durch die poetische Kraft der Sprache das Dasein ertragen und bewältigen will. Denn das Leben „brennt löcher in die seele“, wie es im Gedicht „vergehen und wiederkehr“ heißt:
löcher mit schwarzen trauerrändern. schwarze löcher, die alles verschlingen: liebe, freude, lebensmut.
Es sind tiefgreifende Erschütterungen, die Greller in ihrem aktuellen Band „berichte von der innenfront“ thematisiert, die Konfrontation mit Krankheiten, mit dem Tod geliebter Menschen, mit Abschieden und Verlusten. Das Wort Front lässt an Krieg, Zerstörung und Versehrung denken, aber auch an Abriegelung, an ein Verschanzen des eigenen Ichs hinter einer Bewehrung. Es sind Ereignisse, die das Ich an den Rand der eigenen Sprache katapultieren, manchmal bis zum drohenden Verlust. Doch zugleich erweist sich das Ringen um und das Beharren auf Sprache als Rettung, wenn das Ich gleichsam um jeden Buchstaben kämpft, damit Wort für Wort zu einem Sprachseil knüpft, um sich aus dem Elend der Ereignisse zu ziehen, bezeugt etwa im gerade erwähnten Text „vergehen und wiederkehr“, wenn es heißt:
fang wieder von vorne an mit dem buchstabieren. dem buchstabieren der verlorenen worte, immer wieder, in krakeliger schrift und zitternd
Und es gibt einen dritten Leitgedanken. Er taucht im Gedicht „trostlicht“ auf und beschwört das „seelenlicht schönheit“, jene Utopie, dass Schönheit Wunden zu lindern, Schmerzen zu heilen vermag:
in der bedrängnis das licht der schönheit suchen, seine schlichte, weiche bahn.
Es ist keine romantische Schwärmerei, sondern die Hoffnung einer Dichterin auf Erlösung durch das Gewahrwerden einer Schönheit, die für sich und aus sich selbst heraus da ist, sowohl in Impressionen aus der Natur plötzlich aufflammen kann, etwa beim Beobachten des Vogelflugs, des Glitzerns von Wellen oder beim Betrachten einer Blüte, als auch in künstlerischen Genüssen, etwa beim Hören einer Melodie und beim Erfahren eines Gedichts. Es ist eine Schönheit, die nicht nur „trostlicht“ wird in aufwühlenden Zeiten, sondern darüber hinaus zum „ruhelicht / kraftlicht“, um weiterleben, weitermachen zu können.
Aufgebaut ist Grellers Buch aus vier Kapiteln mit sprechenden Titeln aus je zwei Worten: „suche, ortung“, „unruhe, traum“, „trauer, klage“ und „wachstum, wege“. Enthalten sind Gedichte, die wie erwähnt der Trauer und Verlusten Ausdruck geben, zum Beispiel im „zyklus totenlieder“, dessen Titel an Friedrich Rückerts „Kindertotenlieder“ erinnert, darunter sein vielleicht bekanntestes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Grellers Zyklus enthält Gedichte, die zum Teil schon in ihren früheren Lyrikbänden abgedruckt waren und nun mit neuen Texten stimmig vereint wurden, Gedichte, die der eigenen Trauer Worte und Form geben, aber auch solche, die an den Tod der Tochter einer Freundin, den frühen Unfalltod des Bruders oder an das totgeborene Kind einer weiteren Freundin erinnern. Neben Erinnerungs-, Abschieds- und Trauertexten finden wir aber auch lebensbejahende, der Liebe, dem Genuss und der Freude zugewandte Gedichte mit durchaus gewitzten Wendungen und interessanten Blickwinkeln, Texte, in denen Greller mit ihrer genauen Beobachtungsgabe, wie in früheren Büchern, auch dem Kleinen und dem vermeintlich Unpoetischen Worte schenkt, etwa dem schon erwähnten Sessellift, sowie das unaufhaltsame Vergehen der Zeit und das Credo carpe diem verdichtet. Andere Gedichte setzen sich mit Arbeiten bildender Künstler*innen auseinander oder erweisen bekannten Werken der Dichtkunst und der Musik Referenz. So webt die Lyrikerin Zitate aus Friedrich Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ ein oder paraphrasiert mit ihrem Gedicht „am brunnen vor dem tore“ Franz Schuberts Lied „Der Lindenbaum“. Zudem enthält das Buch Texte, die sich mit Details der Natur oder mit politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen beschäftigen, etwa der Corona-Pandemie und dem Leben während des angeordneten Lockdowns, mit dem Klimawandel oder dem Ukraine-Krieg.
Ergänzt wird der Band durch Zeichnungen der Künstlerin Traute Molik-Riemer, die schon frühere Lyrikbände Grellers mit ihrer subtilen Bildsprache bereichert hat. Entstanden ist ein (zwei)stimmiges Buch, das zum Innehalten einlädt!
Christl Greller: berichte von der innenfront. Gedichte. Mit Zeichnungen von Traute Molik-Riemer. edition lex liszt 12, Oberwart 2022. 120 Seiten, Euro 19,–