Stefan Schmitzer liest den Gedichtband Bukarest Bistro von Patricia Brooks
Als Erstes registriert der Rezensent, wenn er diesen Band mit Gedichten von Patricia Brooks in die Hände nimmt, den ihm unbekannten Verlagsnamen unten auf dem Cover: edition nikra. Der Verlag ist – scheint’s – so neu, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht einmal die Homepage online ist. Natürlich ist edition nikra alles Gute zu wünschen. Wenn das vorliegende Buch ein Beispiel des Programmkonzepts sein soll (wovon wir ausgehen können – laut den Verlagsinformationen auf der letzten Seite sind bislang drei Bücher erschienen, lauter Lyrik), dürfen wir für die Zukunft mit einer Reihe weiterer schnörkelloser Gedichtbände österreichischer Zeitgenoss*innen rechnen. Immer her damit!
„Bukarest Bistro“ jedenfalls, das vorliegende Buch, umfasst einundsechzig Gedichte auf knapp siebzig Seiten – manche sind etwas länger als eine Seite, die meisten zwischen fünfzehn und zwanzig Zeilen. Neunundfünfzig von ihnen sind im engeren Sinne Reisegedichte – Gedichte wie träumerische Einträge in Journale verschiedener Reisen. Die zwei verbleibenden Gedichte – der erste und der zweite Text des Bandes, „Getaway“ und „Train“ betitelt – sind dagegen so etwas wie programmatische Aufbruchsnotizen, Itinerare und auch formal von den ihnen folgenden Einträgen abgehoben. Diese zwei Texte sind reduzierter auf ihre Form als alle weiteren – sie nutzen die Form nicht bloß, um einen Zustand oder Schauplatz darzustellen, sondern es ist, was sie wesentlich abbilden, die Form der spezifischen angewandten Stilmittel. Und das gar nicht mal kompliziert. Wir können uns denken: Diese zwei Texte bilden Leseanweisungen bzw. sie stellen die Sorte von Stilfiguren des restlichen Bandes zum Kennenlernen aus. „Getaway“ ist schlicht eine alphabetisch geordnete Liste mit Verben des Aufbruchs – und natürlich erzählt die genaue Auswahl und Anordnung allerhand. „Train“ ist dem gegenüber komplexer und funktioniert sozusagen als (Bahnhofs-) Schautafel darüber, dass ein Gedicht mehrere Lesarten haben kann:
Train wir reisen (in fremder Landschaft) nachts (versäume ich Schlaf) das Abteil (so finster) verschlingt (der Mond) viele Geschichten (erzähle ich) Dubrovnik calling (am Meer)
Wir können nun die erste und die zweite Vershälfte als Kommentare zueinander verstehen, bloß assoziativ – die erste, ohne Klammer, stellt das äußere Geschehen dar und jene in der Klammer die innere Wahrnehmung dazu. Wir können, anders, auch die Halbzeilen zusammenziehen und dann im Gesamtgebilde wohlgeformte Sätze suchen. Die finden wir teilweise durch Enjambements getrennt: „(…) verschlingt der Mond / viele Geschichten, erzähle ich / ‚Dubrovnik calling‘ am Meer”. Diese Leseweise liefert eine von Anfang bis Schluss plausible, lineare Erzählung. Lesen wir dagegen die beiden „Hälften“ gesondert, dann bekommen wir zwei Kolumnen im Dialog: „Wir reisen nachts. Das Abteil verschlingt viele Geschichten. Dubrovnik calling“ und „In fremder Landschaft versäume ich Schlaf. ,So finster der Mond‘, erzähle ich am Meer“. Also eine hemdsärmelig-sehnsüchtige Anreise per Zug und, am Reiseziel angekommen, ein abgeklärterer Zustand von Weitblick.
Didaktik
„Train“ breitet also dieses eine der aufgebotenen Stilmittel so sichtbar aus und wendet es geradezu didaktisch auf den Gegenstand des ganzen Bandes, Reisen, an, sodass der Eindruck entsteht, hier bezeichne die Autorin oder zumindest das poetische Subjekt der Gedichte vor der Abfahrt nochmal das Thema der ganzen Unternehmung: das topologische Gedicht, das Durchreise-Poem, neunundfünfzig Mal als Schauplatz von Reflexion, von Weltaneignung. Klar kann ich mich am neuen Ort (der freilich auch eine Person, ein Körper usw. sein kann) umsehen und ihn mir, Element für Element, aneignen – doch stammt gerade diese Auswahl an Elementen dann von mir oder vom Topos? Natürlich läuft das drauf hinaus, dass ich von mir nicht fortkomme.
Da alle diese schwierigen Fragen schon im zweiten Text des Bandes thematisiert, ausgestellt und also gebannt sind, folgen wir der Autorin gerne durchs Erinnerungsalbum; wir finden ein Vertrauen ins Gedicht als nachgerade hermetisch-narrative Form, in der es um das Auffinden verstreuter Spuren einer Wirklichkeit – welcher Wirklichkeit? – geht. Wobei: Nicht die Lösung des jeweiligen Rätsels ist der Punkt, sondern die Atmosphäre des noch Ungelösten – des Noch-unterwegs-Seins.
Das macht denn auch die spezifische erotische Spannung vieler dieser Gedichte aus. Noch dauert die Affäre an, der Moment befindet sich außerhalb der Zeit, die gespannte Aufmerksamkeit des Subjekts suspendiert die Schwerkraft. Vielleicht könnten wir „Bukarest Bistro“ als Serie von Variationen des Prinzips „Tagelied“ lesen? Wäre das verstiegen? Wohl nicht gar zu sehr …
Patricia Brooks: Bukarest Bistro. Gedichte. edition nikra, Baden/Obermallebarn, 2022. 72 Seiten. Euro 12,–
Hier können Sie das Gedicht Badland aus dem Band lesen.