Christian Steinbacher entdeckt Ehrenstein in einem Antiquariat wieder
Und dann entdecke ich bei einem meiner Besuche des Antiquariats Steinberg hier in Linz (noch gibt es das Geschäft, bedauerlicherweise bereits das letzte! in dieser Stadt) einige der zwanzig Bände der 1981 in der AutorenEdition in Königstein nachgedruckten „Malik-Bücherei“ aus den 1920er-Jahren. Die Reihe steht unvollständig vor mir, und so macht es nichts, wenn ich nur den Band 8 erwerbe: China klagt von Albert Ehrenstein, untertitelt mit „Nachdichtungen revolutionärer chinesischer Lyrik aus drei Jahrtausenden“ (das im Erstdruck 1924 erschienen ist). Ich schlage die Seite 11 in dem schmalen Büchlein auf und lese die ersten beiden Strophen des Gedichts „Kaisers Bote“ (wodurch ich mit dem Sommer auch gleich den heranstehenden Herbst ins Boot nehmen kann):
Sommers Glut, Bange Tage, Nie und nimmer ruht Meine lange Plage. Wenn die andern ruhn im Schatten, Muß ich auf dem Weg ermatten. Herbstes Duft, Falb die Bäume, Rauhe Luft Mahnt, daß ich nicht säume. Wenn die andern Früchte lesen Flieg ich mit verwelkten Blättern Durch die Räume.
Ich freue mich über den Reprint und vergleiche zuhause die kleine Auswahl mit dem Band 3/1 der Ehrenstein-Werkausgabe. Dabei bleibe ich bei dem (in dem Malik-Band nicht enthaltenen) Gedicht „Nach und nach“ aus dem Schi-King, einem von Konfuzius zusammengestellten „Liederbuch“ hängen. Revolutionäre Lyrik?
In der Werkausgabe findet sich auch ein Faksimile des Titelblatts einer bereits zwei Jahre vor dem Malik-Band erschienenen Sammlung von Gedichten aus dem Schi-King, untertitelt mit: „Nach Friedrich Rückert / Von Albert Ehrenstein“. Ich suche das Digitalisat zu Rückert im Internet und vergleiche dessen Version (betitelt mit „Der Heruntergekommene“) mit Ehrensteins „Nach und nach“, das auf ein anderes Tempo setzt und dabei Zeilen splittet und „Ach und ach“ zu „Ach“ verkürzt. Ein nächtlicher Umtrunk wird bei Ehrenstein zudem als konkrete Situation gefasst und das Rückert’sche „Saßen mir drey Zecher“ wird zu „Saßen ich und noch drei Zecher“, was das Dichter-Ich in die gesellige Runde integriert und es dort „Bis zur Frühe wach“ (bei Rückert: „All in Freuden wach“) sein lässt. Und Rückerts Vers mit der Wortfolge „nach oben“ unterbleibt unter anderem, weil Ehrenstein schon an früherer Stelle des Gedichts „hoch“ durch „schön“ ersetzt. (Für weitere Beobachtungen sei auf eine längere Form-Analyse hingewiesen, die Interessierte unter dem Titel „Rinnt’s noch!?“ auf den Interpretationen vorbehaltenen Seiten der Poesiegalerie abrufen können.)
Im Nachwort der 1922er Ausgabe seiner Nachdichtungen notiert Ehrenstein: „Ich bemühte mich, den von mir erwählten hundert Gedichten durch Kürzungen, lebendigeren Rhythmus, Entfernung sinnstörender Zutaten, Umbau, in vielen Fällen durch Neudichtung etwas von der sinnlicheren Unmittelbarkeit der ersten Schöpfung wiederzugeben.“ Auch diese angepeilte Unmittelbarkeit braucht Maß. Und wie jedes Maßnehmen ist auch das der Poesie eine Angelegenheit der Form, und das heißt ein Bezugnehmen, Unterstreichen oder Hervorrufen mittels Wiederholung, Erweiterung, Auslassung, Umstellung. Noch vorm Sommer kam ich in einem Gespräch mit der Dichterin Verena Stauffer auf chinesische Schattenspiele zu sprechen, und ich habe dabei Albert Ehrenstein erwähnt, jenen 1886 in Ottakring geborenen und 1950 in New York verstorbenen expressionistischen Lyriker, Übersetzer und Mitarbeiter der legendären Zeitschrift Der Sturm, an den ich hier erinnern will. Im Denken an dieses Gespräch habe ich vorhin Stauffers Debüt (zitronen der macht) (hochroth, Wien 2014) neu zu lesen begonnen und bin auch dieses Mal bei dem Gedicht „manet“ hängengeblieben. Auch in der Lektüre dieses Gedichts genieße ich die Zählbarkeit und beobachte die Positionswechsel und den daraus resultierenden Silbenfall. Mag sein, dass ich auch „manet“ einmal einer längeren Betrachtung zuführen werde. Das soll hier aber nur ein Selbstaufruf als möglicher Ausblick sein. (Manet ja, Monet nein, meinte Rühm gegenüber Schutting bei den Innsbrucker Wochenendgesprächen 1988, oder zumindest habe ich, der als ganz junger Dichter dort eingeladen war, das heute noch so im Ohr.)
Albert Ehrenstein: „Nach und nach“ und „Kaisers Bote“, in: Schi-King. Das Liederbuch Chinas, Leipzig, Wien, Zürich: E. P. Tal & Co. 1922. Hier zitiert aus: Werke, herausgegeben von Hanni Mittelmann, Band 3/1 (Chinesische Dichtungen, Lyrik), München: Klaus Boer Verlag 1995, S. 68 (derzeit noch erhältlich über den Wallstein Verlag).