Helmuth Schönauer verlängert mit Jürgen Beckers
Gesammelte Gedichte. 1971–2022 den Sommer
In Glücksstunden kann das Lesen zu einer Philosophie ausarten, worin bekanntlich die Gedanken umso klarer werden, je disziplinierter sie eingefangen sind. Nicht das hemmungslose Ausschweifen bringt die freien Gedanken in den Kopf, sondern das disziplinierte Heranführen selbigen an jenen Horizont, an dem eine andere Sprache, Semantik oder Logik beginnt. Für sogenannte „reife Leser“ spielen mit zunehmendem Alter Leserituale eine Rolle. Sie geben den flatternden Augen nicht nur Stabilität, die Zeilen zu halten und abzutasten, fixe Gewohnheiten ermöglichen es erst, diese zu überwinden und täglich eine Art unerforschtes Gelände zu erkunden.
Eine vielleicht selten angewandte, aber durchaus reife Gewohnheit besteht darin, sich zu Sommerbeginn ein physikalisch schweres Buch, also einen Schinken, zuzulegen. Allein schon durch Größe und Gewicht dieses „Sommerbuches“ erfährt das Jahr plötzlich Tiefgang. Das Buch beschäftigt einen nicht nur ein paar Wochen über die heiße Jahreszeit, es bleibt auch heiß, indem man durch ein bloßes Erinnern des Buchtitels das Jahr zusammenfassen kann. Es ist also nicht jeden Tag der Fall, dass man sich um 78 Euro „Gesammelte Gedichte“ auf 1100 Seiten kauft. Aber der Tag des Kaufes wird in der Erinnerung verblassen, das fette Buch wird über den Sommer hinaus bleiben.
Das Jahr 2022 wird also mit Jürgen Becker und seinen Gesammelten Gedichten in die subjektive Lesegeschichte aufgenommen und dort fixiert. Das Buch erscheint zum neunzigsten Geburtstag eines Autors, der in den 1960er Jahren mit seinen drei Prosa-Büchern Felder, Ränder und Umgebungen das Erzählen aufrollt, indem er es an seine Grenzen heranführt.
(c) Helmuth Schönauer
Jedem Text wohnt seither dieses Begriffs-Geodreick inne: Felder, Ränder und Umgebungen sind seit dem ersten Lyrik-Band „Schnee“ (1971) verlässliche Fixpunkte, zwischen denen die Gedichte ausgespannt sind. In einer Zeit voller Environment, Happenings, Fluxus und balladeskem Langgedicht wirken die Gedichte Jürgen Beckers fast verloren, ehe sich dann doch die Idee durchsetzt, dass man vielleicht mit den Titeln der Lyrikbände beginnen sollte, wenn man sie erforscht oder auf sich wirken lässt. In den Titeln, die meist im Zweijahresabstand erscheinen, ist die aktuelle Programmatik enthalten, die sowohl für die Gedichte gilt, als auch für die dargestellte historische Materie. Später setzt sich für die Gedichte, die oft Menschen, Handlungen und Krisen aus dem Weg gehen, der Begriff „Journalgedichte“ durch. Dabei stehen die verhandelten Themen verlässlich in keinem üblichen Journal.
Das Ende der Landschaftsmalerei | Erzähl mit nichts vom Krieg | Korrespondenzen mit Landschaft | Dorfrand mit Tankstelle | Die Rückkehr der Gewohnheiten.
Diese „Nicht-Schlagzeilen“ bringen sofort eine Epoche zum Schwingen, die jeder von uns in seinem inneren Archiv abgelegt hat, ohne sie beschriftet zu haben. Jürgen Becker liefert diese innere Beschriftung nach, sodass wir nicht nur seine Texte, sondern auch unsere Erinnerungen künftig geordnet haben. Aus dem zwanzigseitigen Nachwort von Marion Poschmann sticht eine vage Anleitung heraus, wie man diesem Erinnerungs- und Dokumentiervorgang Herr werden könnte. „Das lyrische Ich gibt sich äußerst zurückgenommen, die Subjektivität geht in den Wahrnehmungen auf und wird dadurch verräumlicht, unpersönlich, mit der Intention, den Filter aus Voreingenommenheit, überspannten Ideen und Projektionen, der unvermeidlich jedes Individuum auf seine eigene eingeschränkte Perspektive zurückwirft, ein wenig, immerhin ein wenig, und das heißt so weit wie möglich, zu entfernen.“ (1060)
Ehe man in die eigentliche Lektüre eintaucht, die wohl mindestens eine Jahreszeit lang dauern wird, empfiehlt es sich noch, die Bilder des Fotografen Boris Becker, Sohn des Autors, wirken zu lassen. „Geräumtes Gelände“ lässt sich gerade noch abbilden, ehe die Grenze der Fotografie erreicht wird.
Für diesen Fall der Bildüberschreitung werden die Collagen von Rango Bohne, (die verstorbene Frau des Autors) herangezogen, die immerhin eine vage Stimmung wie „Fenster und Stimmen“ ausleuchten.
Eine Spezialität sind schließlich die selbstverfassten Klappentexte. Jürgen Becker ist einer der seltenen Lyriker, die wissen, was sie schreiben, indem sie sich selbst Klappentexte abringen, in denen Richtung, Verlauf und Sickerbecken der Gedichte konzipiert sind. Diese Klappentexte sind keine Werbezettel, sondern straffes Programm, das man stets griffbereit haben sollte, wenn man bei einem Gedicht hängenbleibt. (Der Klappentext ist die Schneekette bei glatten Verhältnissen, lautet übrigens ein Rezensionsbonmot.)
Der fette Band verlangt nach einer Unterlage, zuerst gilt es, das Buch zu stabilisierten, dann darf man sich anpirschen wie an eine Geliebte auf einem Badetuch. Und dann ist er da, der Sommer, mit all seiner Zeit, sich treiben zu lassen. Immer wieder wird man zum Leseflaneur, schließt die Augen und lässt es wirken (S.831):
Nur weil du am Telefon sitzt und wartest, passiert nichts. Ein Wasserglas ist umgefallen, als der Fensterflügel aufging, wie von allein, aber es muss ein Durchzug gewesen sein; offen stehn auch die Türen
Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte. 1971-2022. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker. Mit einem Nachwort von Marion Poschmann. Berlin, Suhrkamp, 2022. 1120 Seiten, Euro 78,00.