Alexander Peer liest Helmuth Schönauers
Antriebsloser Frachter vor Norwegen
Helmuth Schönauers Miniaturen-Sammlung “Antriebsloser Frachter vor Norwegen” leistet ein Journal des Jahres 2021. Dabei schöpfen die in Summe 175 Einträge aus lokalen und globalen Nachrichten. So ist der Titel selbst durch ein Ereignis vom April 2021 verursacht. Ein navigationsunfähiges Schiff, welches auf die Küste zusteuert oder zu kentern droht, stellt fast zwangsläufig einen Topos für die Befindlichkeit unserer Zeit dar. Noch dazu war das orientierungslose Schiff befüllt mit etlichen Tonnen Rohöl und Diesel. Schönauer kombiniert Nachrichten verschiedener Rubriken und ergänzt sie fallweise mit persönlichen Interventionen. So entsteht ein Logbuch des drohenden Untergangs (147):
© Edition BAES
(…) nach der Sendung werden in Japan im Marathon die Gold-Medaillen vergeben während die Originalstrecke in Griechenland abbrennt spät in der Nacht und nach der letzten Siegerehrung eine Freiwillige Feuerwehr aus Amstetten “geht” im Marathonschritt nach Griechenland um irgendwas zu löschen was sie für die Ösis übriggelassen haben
Der Bibliothekar nimmt uns an die Kandare
Ein durchgehendes Motiv mancher erhellenden Betrachtung entsteht erst durch einen Mangel. Es sind Lesefehler, die mit Witz und in der Regel schonungslos den Blick zu richten helfen. So ist auf Seite 13 von einer “Abocalypse” die Rede. Tatsächlich stellen die Journaleinträge ein Art Abonnement für das zielsichere Scheitern dar. Motivisch sind es immer wieder ökologische Szenarien, an welchen der menschliche Frachter – träge und steuerungslos – zu zerschellen droht. Doch keine Disziplin ist vor dem Sarkasmus sicher. Auch nicht die Zunft der Bibliothekare. Schönauer war selbst jahrzehntelang Bibliothekar an der Universität Innsbruck und nicht nur in diesem Fachbereich seiner Expertise gewiss. Wenn er etwa über das Feuilleton den allgemeinen Befund anhand folgender Miniatur ausstellt, weiß man, dass Kulturpessimismus zur soliden Grundlage dieser Betrachtungen gehören:
kaum ein Glossist ist noch im aktiven Umlauf der nicht etwas über die Schiffsverklemmung im Suezkanal geschrieben hätte jetzt geht es noch jahrelang darum die Meisterstücke von damals miteinander zu vergleichen
So wie sich der Frachter ohne Antrieb im Kreis zu drehen beginnt, so dreht sich eine in der Pandemie gefangene Gesellschaft im Kreis. Sie dreht sich auch ohne Pandemie im Kreis. Dabei lässt sich dieses Paradoxon fassen: Nur im Stillstand fällt das Sich-im-Kreis-Drehen markant auf. Der französische Philosoph Paul Virilio hat das Phänomen der steigenden Beschleunigung bei gleichzeitiger Lähmung prägnant als “rasenden Stillstand” bezeichnet.
Lediglich dickhäutige oder masochistisch begabte Beamte finden wohl an nachstehendem Zitat Gefallen. Schließlich sind die Ärmelschoner ein wiederholtes Sujet von Schönauer, um Stagnation plastisch vor Augen zu führen (32):
(…) die Politik geht die Verwaltung steht! Beamte enden nicht am Friedhof sondern in einem Akt der sie über Jahrhunderte unsterblich macht selbst von den einbalsamierten Nilbewohnern kennen wir nur Götter und Beamte alle anderen sind schon verwest
Den Beamten mag es ein geringer Trost sein, dass kein Berufsstand vor den schönauerischen Zuschreibungen sicher ist. Auch die Urteile über Österreich, den Pandemie-Umgang oder die politischen Zustände in der eben nicht schönen, weiten Welt fallen zuungunsten der Angeklagten aus. Eintrag 51 etwa gipfelt in der Diagnose:
wir berühren tatsächlich das Fleisch nur einmal ehe wir es an uns nehmen zuhause panieren wir als gelernter Österreicher weil dieser nie das Fleisch betrachtet sondern die Panier mit der Republik verfährt er genauso die nackte Republik würde niemand aushalten die panierte hingegen ist ein Vergnügen
Die im Ton oft derbe und mit analen Vergleichen kaum geizende Miniaturprosa ist stilistisch durch Weglassungen gekennzeichnet. Die stakkatoartigen Einträge lesen sich wie ein Telegramm des jeweiligen Tages und bringen die schauerlichen Nachrichten der Welt in die meist muffige Tiroler Küche, wo sie angesichts der heimischen Umstände oft an Schrecken einbüßen oder einen willkommenen Echoraum vorfinden.
Politische Satiren gegen den Weltschmerz
In den politischen Zuspitzungen steckt manches Mal ein ordentliches Maß an Offenbarung, wenn etwa “das Neujahrskonzert von einem Multi (Anm. statt Muti) dirigiert wird”, dann verweist der Lesefehler auf eine ganz andere Ebene, die erst durch den Kontrast wirkt. Auch die “DDR-Waschmaschine: Mielke” verfährt so und bietet humorvoll ein stimmiges Porträt des einst gnadenlosen Ministers für Staatssicherheit. Sicherlich liefern diese groben Zuschreibungen keine differenzierte Beobachtung, aber sie stellen eine anarchische Befreiung dar. Es wäre nicht falsch gewesen, hätte man auf den einen oder anderen Satz mit Fäkalsprache verzichtet; es finden sich ohnedies ausreichend Schimpfwörter im Buch, sodass man sich um den durch Sprache genährten Zorn nicht sorgen müsste.
Angesichts der vielen Journale und Tagebücher zum Pandemiejahr 2021 stellt diese formale Aufbereitung eine Abwechlsung dar. Zwar sind manche Assoziationen gar etwas sprunghaft, aber in der Summe finden sich etliche anregende Gedanken-Rösselsprünge, etwa bei Sheffield Wednesday, das der fußballaffine Mensch mit einem englischen Traditionsklub verbindet, wohingegen bei Schönauer klar wird, dass hier von einem an einem Mittwoch verstorbenen Pferd namens Sheffield die Rede ist.
Helmuth Schönauer: Antriebsloser Frachter vor Norwegen. Edition BAES, Zirl, 2021. 80 Seiten. 15,– Euro