Helmut Schönauer liest Christian Wolfs Schall & Rauch
Wo Goethes Faust nicht überall hinlangt! – In Marthens Garten wird gerade die Gretchenfrage gestellt, da kommt es schon zum berühmten Diktum: „Gefühl ist alles. Namen sind nur Schall und Rauch.“ Christian Wolf greift diese längst zum Klassiker gewordene Fügung auf, um sich damit einem lyrischen Ur-Zustand zu nähern. Während in weiten Teilen der Gesellschaft auf Fakten gesetzt wird, geht es in der Poesie um Gretchenfragen und definitive Vergänglichkeit.
Was ist ein Gedicht schon anderes, als ein Stück Schall und Rauch? Unter dem Gesichtspunkt dieses Mottos liest man am besten im ersten Durchgang die etwa achtzig Gedichte, die vor allem Situationen beschreiben, in denen ohne Getöse der „lyrische Rauch“ aufgeht. „Tagesanbruch / Sternstunden / Abkürzungen / Sommer / Stadtbild / Traum vom Meer“ sind wie geschaffen für ein Innehalten zwischen zwei Atemzügen, während ein lyrisches Ich wartet, bis sich die Lage beruhigt, der Druck auf die Seele gelockert oder das Wackelbild der Illusion verfestigt haben.
Cover © Sisyphus Verlag
Das Eingangsgedicht „Tagesanbruch“ deutet den Weg an, den das Ich zu beschreiten hat, kaum dass es aufgewacht ist. Vom beiliegenden Körper der Nacht sind noch die Mulden vorhanden, welche die Fingerkuppen in die Matratze gedrückt haben, die Spuren der Nacht werden analysiert wie ein Tatort, Mord steht auf dem Spiel, die Beziehung hat sich vielleicht selbst beiseite geschafft. Die Sonne geht indes unbeirrt auf und strahlt auf Gewebe, das eingeklemmt ist zwischen Blut und Frost. Allmählich kommt Bewegung in die Körper, sie sind ja ineinander verkrallt, der Body des einen Teils ist das Grab des anderen, und drumherum erweist sich die Liebe als Sarg. Diese Aufwachsituation aus Traum, Nacht, Umarmung und Koitus oszilliert wunderbar zwischen den Empfindungen, die sich nicht entscheiden können, ob sie eingebildet sind oder real.
Der Wechselwirkung zwischen großen Gefühlen und Wortgesten sind auch gesellschaftspolitische Begriffe ausgesetzt. „Diese Ost-Blocks“ greift im Sinne einer Tages-Glosse scheinbar einen zeitgeschichtlichen Jargon aus der Zeit auf, als der Kontinent in zwei große Blöcke zerteilt war. Aber als sich die große Semantik-Wolke verflüchtigt hat, tauchen primitive Gebäude daraus hervor, Wohnbunker, die entgegen aller Logik nach Osten schauen, darin eingepfercht lebt das österreichische Proletariat. Die Anlage wirkt wie ein Ödem im Stadtbild, und darin eingelagert in irgendeinem Stockwerk sitzt ein lyrisches Paar und wendet sich den eigenen Gefühlen zu.
Überleben in der Poesie
Mitten im poetischen Aufräumen setzt sich ein handfester Aufsatz ins Lyrik-Gebüsch, er nennt sich schlicht „Das Leben“ und erzählt doch fast alles, was es darüber zu sagen gibt. „Das Leben (…) strebt nach mehr Leben. Nicht am Einzelding, am gebrechlichen Ast, entwächst sich das Leben.“ Dieser vage Begriff wird in der Folge lyrisch besungen, wie man etwa in einer Western-Ballade von der Freiheit der Prärie singt. Auf die Alpen übertragen kann man das Leben nur erforschen, wenn man es wirken lässt, innehält an einem Weiher zum Beispiel. An dieser Stelle verflüssigt sich die Prosa zu Poesie, es geht nicht darum, das Leben irgendwie zu erklären oder zu vermehren, sondern es sollen andere Schnittpunkte des Überlebens in der Poesie evoziert werden. Der gebrechliche Ast verweist vielleicht auf das Schilfrohr Blaise Pascals, der an der Oberfläche geronnene Weiher vielleicht auf Georg Trakl, wenn das Leben blutig in der Jagd zerronnen ist.
In einem Umfeld voller „schön aufgeladener“ Begriffe schlagen mechanische Blechwerkzeuge umso härter auf. Das Gedicht „Dosenfleischmentalität“ etwa löst das Problem mit einem etwas gestörten Selbstbewusstsein. „Man muss nur einen Dosenöffner bei sich haben, schon öffnet sich die Welt.“ Mit diesem Kalauer-Gestus erweitert das lyrische Ich seinen Horizont, um ernüchtert festzustellen, dass überall auf der Welt das gleiche Dosenfutter in den Regalen steht.
Vögel und das Verfliegen der Zeit
Und wo ist die Schlüsselstelle mit den Vögeln? In einem unausgesprochenen Diktum muss sich in guten Gedichtbänden immer ein Vogel aufhalten, um das rätselhafte Verfliegen der Zeit zu dokumentieren. In dem Gedicht „Traum vom Meer“ ist es sachte versteckt, das Vogelmotiv. Gleichzeitig definiert sich das lyrische Ich als inniger Teil der Welt, zwischen Bild und Empfindung hat kein Blatt Papier Platz.
Ich bin der Welt an die Brust genäht, ich schlage mit ihrem Herzen, ich atme mit ihren Lungen die Querschnitte von Korallenriffen am Himmel – und wie er das Meer heraufbeschwört / im Salzgeruch der Erinnerung. Am Morgen verfolgen sich Vögel über dem knappen Abschnitt Himmel im Innenhof, wechseln sich Flugweisen, Flugsprachen, stürzen ihre Leiber ins Bodenlose, jagen durch die hellende Luft, verfolgen die ersten Strahlen.
Gedichte sind mehr als eine Ansammlung von Bildern und Motiven, dahinter liegt jeweils ein Konzept, das sich mehr oder weniger raffiniert verborgen hält, indem es sich der lyrischen Oberfläche unterordnet. Hinter dem Bild eines Leseabends als Lektüre, der vielleicht zu dem Gefühl verführt, das lyrische Ich sitze in einem falschen Film, wallen stets die flüchtigen Zustände von Schall und Rauch auf. Man möchte nicht wissen, was jemand im Leben alles nicht gelesen hat, man möchte nicht wissen, wohin die Bilder sich aufgelöst haben, nachdem sie jemanden enttäuscht haben.
Der Vorgang, die Welt zu erkunden, endet in optimistischer Hilflosigkeit:
Lass mich dich erraten, Welt, verraten und necken, lass uns Spielwiese sein für einander – an festlichen Wolken Unfestigkeiten befestigen an einander
Christian Wolf legt mit „Schall & Rauch“ ein paradoxes Konzept vor, das die Gedichte handfest macht, indem es die Verse aus den jeweiligen Zeilenangeln hebt. Die angesprochenen Motive treten in den Hintergrund, sobald sie angesprochen werden. Ein großes Gefühl kann einfach da sein, aber es ist weg, wenn man es zwischen den Zeilen sucht. Und dann ist es wieder da, obwohl man den Gedichtband schon weggelegt hat.
Christian Wolf: Schall & Rauch. Gedichte. Sisyphus, Klagenfurt, 2022. 98 Seiten. Euro 13,–