Stefan Schmitzer liest Daniela Kocmuts Freitauchen
In einem „STAUB“ betitelten Gedicht im ersten der vier Kapitel von Daniela Kocmuts Lyrikband „Freitauchen“ findet sich, als eigenständige Strophe, dieser Dreizeiler:
der wind frisst mir aus den händen, versucht aber lediglich die feinstaubschicht von meinen handflächen zu wehen.
Es sind Stellen wie diese, an denen sich bei Kocmut eine poetische, scheinhaft mehrdeutige Formulierung („frisst mir aus den Händen“) bei genauem Lesen („versucht aber“) in eine unabgegoltene Wirklichkeitsbeschreibung – in die Beschreibung nicht abgegoltener Wirklichkeiten – verwandelt. Diese Wendungen bilden ein kontrastierendes (also strukturierendes) Stilelement in einem Band voller Gedichte, die ihrer Natur nach eigentlich eher weniger zur formalen Kippfigur tendieren als zum klaren Gedanken, zur sorgsam ausgestellten Miniatur. Wie ich das mit der „Natur“ meine, erzählen vielleicht die Kapitelnamen in Kurzform: Auf erstens „sprachigkeit“ und zweitens „sprachzeich(nung)en“ folgen drittens „zwischenstationen“, zuletzt geht es ans „freitauchen“.
© Verlag edition keiper
Zwischen Deutsch und Slowenisch
Anders gesagt: Kocmut, zweisprachige Dichterin und Übersetzerin zwischen dem Deutschen und dem Slowenischen spricht im ersten Kapitel vom Übersetzen in verschiedenen Bedeutungen des Wortes – das geht von der biographischen Skizze über das Nachdenken zum Gewicht der verschiedenen „Sprachigkeiten“ (wie in „deutsch-“, „slowenisch-“, „fremd-“, „muttersprachig“) bis zum ganz Metaphorischen (Schauen oder Lesen als Übersetzungsleistung), wenn Kocmut mehrere Gedichte als Anreden an lebende und verstorbene Dichter:innen anlegt.
Im zweiten Kapitel können wir im Einzelnen betrachten, wie Kocmuts autofiktionales Subjekt von ihrer/ihren Sprache/n gezeichnet ist, wenn wir die Reihe von vollständig zweisprachigen „Spiegelgedichten“ lesen, die genau von dem handeln, was sie formal nachbilden: einer Existenz, die sich stetig „verdoppelt“ – an der Kante zwischen slowenischer und deutscher Sprache, konkreter zwischen untergegangener (jugoslawischer) und existenter (österreichischer) Lebenswelt.
Kapitel drei, „zwischenstationen“, mäandert zwischen Kindheit, Erotika und Corona-Tagebuch – zuvor lasen wir von den Arten, wie Sprachen (mit Betonung auf dem Plural) sich diesem Textsubjekt aufpräg(t)en, nun sehen wir es, samt jenen Prägungen, in Aktion. Strukturierend bleibt, dass stets in irgendeiner Weise Information ihr Medium zu wechseln scheint. (Oder sind nun bloß auch wir, die Leser:innen, von den ersten beiden Kapiteln, sozusagen „sprachgezeichnet“, vorgeprägt?) Teil vier, „freitauchen“, gilt dann, sinnigerweise, der (zumindest erwünschten, vielleicht notwendigen, möglicherweise auch möglichen) Befreiung von jenem ausgestellten Ballast – wenn es sich auch beim „Freitauchen“ nicht um ein „Davonfliegen“ o. Ä. handelt. Kocmut zitiert im Motto jenes Kapitels die Filmemacherin Julie Gautier: „Wenn du tief tauchst und gegen den Wasserdruck ankämpfst, wirst du nie gewinnen.“ Ihre Paraphrase dazu in „FREITAUCHEN I“:
atmen lernen heißt eintauchen in die eigene geschichte in schichten die sich unter der oberfläche brechen die in tieferen sphären schlummern im dunklen abgrund ruhen
Erinnern und übersetzen
Insgesamt hat also der Band den Charakter eines Erinnerungsalbums, dessen Kompilatorin die einzelnen eingeklebten Stücke nicht unbedingt chronologisch geordnet hat, sondern so, dass der/die Leser:in möglichst klar die Geschichte der Emanzipation von und der anschließenden Versöhnung mit der Herkunft – „Sprachigkeit“ – dieser Kompilatorin erfahre. Nebenbei lernen wir Aphoristisches über das Übersetzen, aber es ist vor allem der erstere Eindruck, der uns ein Gefühl von Intimität zwischen uns und Kocmuts autofiktionalem Ich vermittelt, von einer gewissermaßen parasozialen Beziehung.
Die distinkten Eindrücke, Gedanken und, siehe ganz oben, poetischen Wendungen von Daniela Kocmut gehören ganz ihr, und wir können ihre Ansammlung interessiert betrachten und auch das eine oder andere lernen – aber es ist diese unangestrengt hergestellte Atmosphäre von Intimität beim Lesen, derentwegen wir „Freitauchen“ nicht so schnell weglegen werden.
Daniela Kocmut: Freitauchen. Edition Keiper, Graz, 2022. 120 Seiten, Euro 16,50