Kirstin Breitenfellner liest Semier Insayifs ungestillte blicke
Semier Insayif, geboren 1965 in Wien, hat seit 1998 fünf Gedichtbände, einen Prosaband und einen Roman vorgelegt. Seit 2000 ist er auch in kunstübergreifenden Projekten aktiv und arbeitet u.a. mit Musikern bildenden Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Das Thema seiner sechsten Lyrik-Buchpublikation vermag deswegen nicht zu überraschen. „vom bebildern eines kopfes und beschriften desselben“ lautet sein sperriger Untertitel.
© Klever Verlag
Im ersten Gedicht (das auch auf der Buchrückseite zu lesen ist) steckt der Autor das Thema ab – oder versucht es zumindest zu skizzieren. Denn das Gedicht und das Gesicht, das Wort und das Bild gehören zu den Literaturthemen, die, möchte man sagen, beinahe alles umfassen.
or aus gefragt was sehe ich wenn ich ein bild sehe? was höre ich? hat das ästhetische eine grammatik? hat der blick ein herz? ist die sprache empfänglich für ein bild? sind bilder empfänglich für sprache? was schenken sie einander? was nehmen sie sich (heraus)? kann kunst – die nicht sprache ist – zur sprache kommen? was kann sprache werden?
Als Motto des ambitionierten Unterfangens, sich diesen grundlegenden Fragen zu widmen, firmiert ein Zitat der österreichischen Jahrhundertkünstlerin Maria Lassnig (1919–2014): „Unsere Augen sollen denken.“
Von der Theorie zur Poesie
Insayif geht sein Thema systematisch an – vom Allgemeinen zum Besonderen: „vortext über malerei an sich“ heißt eines der ersten Kapitel, es folgen dreizehn weitere, zunächst „neun poetische skizzen zur farb (vor) sicht“, „das prinzip der inneren not als wendigkeit“ und „gedichte über malerei ganz allgemein zur an- und umsicht“. Der Hauptteil, der gut 40 Seiten umfasst, ist der Vertextung von konkreten Kunstwerken, zumeist Gemälden gewidmet, zum Ausklang gibt es „rahmen fragen“ und betrachtungen „übers sehen“ bis zu „nach sicht“. Zwischendurch sichert sich der Lyriker bei Theoretikern und Praktikern von Wort und Bild ab – von Peter von Matt über Gilles Deleuze und Wolfgang Hildesheimer bis zu Wassily Kandinsky, Per Kirkeby und Georgia O’Keeffe.
Was haben Bilder und Texte gemeinsam? „Beider Merkmal ist die begrenzte Fläche, gegenwärtig auf einen Blick, aber mit einem unendlich sprechenden Inhalt“, zitiert Insayif ganz zu Beginn den Schweizer Germanisten Peter von Matt, und schiebt sicherheitshalber noch ein Zitat des Philosophen der Differenz Gilles Deleuze hinterher: „Es ist ein Irrtum zu glauben, der Maler stehe vor einer weißen Oberfläche.“ Aber von so viel kulturtheoretischem Hintergrundwissen sollte man sich nicht erschlagen lassen. Sondern die Gedichte lesen, die wie alle Texte immer in einem kulturellen Feld entstehen, nur dass hier die Quellen und Wurzeln offengelegt sind.
Nach dem Deleuze-Zitat steckt Insayif unter dem Titel „vor aus gesetzt“ die Bedingungen von Malen und Schreiben ab.
vom entleeren eines weißen blattes kein weißes blatt ist je weiß kein blatt ist nur blatt es hat immer schon alles begonnen bevor es angefangen hat kein wort ist nur wort kein strich ist nur strich so auch der klang das bild der blick die haut das herz der mund die hand pinsel stift und papier
Alles scheint klar. Aber das zweite Gedicht macht klar, dass hier nicht jemand am Werk ist, der sein Thema in den Griff zu bekommen versucht, sondern einer, der dessen innere Widersprüche aufzusuchen versteht.
das bild das du siehst ist das abbild eines bildes das es nicht gibt“
Die Bedeutung der Wörter zum Vorschein bringen
Insayifs Lyrik kennt keine Großschreibung und kein Punkt und Komma. Auf diese Weise lässt sich die Bedeutung oder vielmehr Vieldeutigkeit von Wörtern besser zum Vorschein bringen. Um diese Wirkung zu intensivieren, setzt der Autor auch Leerstellen innerhalb von Wörtern, wie in dem bereits zitierten „vor aus gefragt“, in dem neben dem zeitlichen „voraus“ auch das „ausfragen“ mitgedacht werden kann. Dazu kommt der Schrägstrich, der ebenfalls Vorsilben abtrennt, aber auch Silben innerhalb des Worts oder gar einzelne Buchstaben – und solcherart Wörter aus Wörtern zu befreien versteht: „un/vers/ehrt“, „sinn/lich/t“. Bei „sch/reiben“ befindet sich sogar ein Enjambement zwischen den Wortteilen.
inn/lich/t die erkenntnis tappt im dunkeln unter/suchung ihrer selbst
Über diesen Gedichtschluss im Kapitel „neun (poetische) skizzen zur farb vor/sicht“ ließe es sich schon eine Weile meditieren. Insayifs Kunst besteht darin, Räume zu öffnen und Denkangebote zu machen. Aber seine Lyrik darauf zu reduzieren, wäre unvollständig, denn genauso stellt sie eine Feier der Sinne dar, wobei diese nie streng getrennt sind.
1 die farbe ist die taste das auge ist der hammer die seele ist das klavier der künstler ist die hand 2 was wenn die farbe das auge ist und die seele die taste der hammer die hand und das klavier der künstler
Wie Maria Lassnig erhebt auch Insayif den Zweifel zur Kunst. Die theoretische Untermauerung dazu holt er sich bei dem dänischen Maler, Bildhauer, Architekten und Dichter Per Kirkeby (1938–2018). „Das Malerische hat auch mit Gedichten zu tun. Gute Bücher gehen aus Malerei hervor. Gedichte sind nicht Meinungen, Gedichte sind stofflich. Daher kann man in Gedichten über Malerei ,reden‘, über Gedanken, die nur in Stoff und Farbe zu finden sind, und über das neue ,unsichtbare‘ Bild, das außerhalb des Bildes schwebt.“ Malerei ist eine Tätigkeit. Die Terzinen „gedichte über malerei ganz allgemein zur an- und umsicht“ formulieren (gereimt, aber ohne Metrum) deswegen Verben aus: kreuzen, kreisen, streifen, schneiden, decken, fließen.
Dem folgenden Kapitel „gesichtete gedichte – gedichtete gesichter“ sind zwei – von Gilles Deleuze / Félix Guattari sowie von Peter von Matt – vorangestellt, die sich zu widersprechen scheinen. Na und? In der Dichtung kann das Paradox zur Wahrheit werden, das Gesicht das „Unmenschliche im Menschen“ und die „unterhaltsamste Fläche auf der Erde“ sein.
Wenn Bilder Gedichte zum Schweben veranlassen
Wie löst Insayif seinen hohen Anspruch in der „Nachdichtung“ von Gemälden und Fotografien ein? Jedem der Gedichte des Hauptteils sind Maler bzw. Malerin, Titel und Entstehungsjahr des beschriebenen oder eher „bedichteten“ Bildes vorangestellt. Vertreten sind u.a. Karel Appel, Antonin Artaud, Francis Bacon, Günter Brus, Salvador Dalí, Marcel Duchamp, Lucian Freud, Alberto Giacometti, Oskar Kokoschka, Dorothee Golz, Martha Jungwith, Georgia O’Keeffe, Käthe Kollwitz und Maria Lassnig. Es hilft, wenn man die Künstlerinnen und Künstler kennt und noch mehr, wenn man die Bilder googelt. Dabei fällt auf, dass Insayif eine Vorliebe für das Zittrige, Strichlierte, Nebulose, Schemenhafte, Wässrige, nicht Festgefügte, nicht Primärfarbige hegt. Manche dieser Gedichte nähern sich Bildbeschreibungen, in anderen beginnen die Verse zu tanzen, sich experimentell über die Seite zu verteilen und damit selbst zu bildender Kunst zu tendieren.
Stellvertretend zitiert sei zum Schluss eines von jenen, die sich von der Inhaltsangabe des „Vorbilds“ lösen und als eigenständige Dichtung zu schweben beginnen:
nach georgia o‘ keeffe nude series VIII, 1917 mit meiner hand schrift über schreibe ich dein fehlendes gesicht sprich mit mir und dein versäumter mund ruft mich in blau (verträumt) suche ich dich reich mir dein rot habe herzhunger
Semier Insayif: ungestillte blicke oder vom bebildern eines kopfes und beschriften desselben. Klever Verlag, Wien, 2022. 123 Seiten, Euro 21,–