Timo Brandt liest Sandra Hubingers Von Krähen und Nüssen
Einem Vampir gleich ernährte ich mich in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends von Träumen. Nicht wissend, ob die eigenen Träume ausreichen würden oder ob ich bald schon Jagd auf fremde Träume machen müsste, befühlte ich abwechselnd mit dem Finger die Spitze meines Bleistifts, mit der Zunge die Spitze meines Eckzahns.
Bewegt man sich eine Weile in und zwischen den Prosastücken von Sandra Hubinger, kommt einem der ganze Band bald wie ein kurioses Kabinett, eine Ansammlung von Obskuritäten vor oder wie eines dieser von außen unscheinbaren Geschäfte, in dessen Innenraum man dann aber, staunend, mit vielen unterschiedlichen Welten konfrontiert wird, in Berührung kommt, konzentriert in den zahlreichen schönen bis befremdlichen, eine eigene Art von Diesseits verkörpernden Objekten, die sich dicht an dicht in den Regalen reihen.
Cover © Keiper Verlag
Das Geschäft könnte auch ein Museum sein, eines mit einem großen Eingangssaal, von dem viele Türen abgehen, hinter jedem eine kleine, meist dunkel gehaltene Kammer, in der manchmal ein Film abgespielt wird, manchmal Geräusche und Geschichten ans Ohr dringen, rieseln, in manchen Räumen finden sich aber auch Ausstellungsobjekte, die zugleich wie Versuchsanordnungen anmuten.
Aber verlassen wir diese Analogie-Welt, betreten wir die Rezension. Den Umweg über Geschäft und Museum habe ich hauptsächlich in dem Versuch unternommen, die Atmosphäre von Hubingers Band einzufangen, wiederzugeben, was mit einigen herausgegriffenen Zitaten allein nicht gelingen wird. Sie ist schwer zu greifen, diese Atmosphäre, aber faszinierend (im Englischen würde man sagen: intriguing, da steckt noch mehr das Fesselnde, Verblüffende drin).
Inhaltlich ließe sich ein (wackliger) Bogen vom Traum über das Tier bis hin zum Fragment des Ich spannen. All diese drei Elemente stehen immer wieder im Mittelpunkt. Dennoch käme es einer unzulässigen Verallgemeinerung gleich, sie als die zentralen Themen zu bezeichnen. Es sind wichtige Motive, aus denen die Prosastücke einen Großteil ihrer magischen Dimensionen, ihrer profanen Anschaulichkeit beziehen, aber sie erschöpfen sich nicht darin.
Unbehagen als Potenzial
Auch formal fällt es schwer, diese Prosa auf einen Nenner zu bringen. Wir haben hier Geschichten, Reflexionen, Aphorismen, autobiografisch Angehauchtes, Metamorphosen, Berichte, die mal als Traum, mal als Fiktion, mal als Schilderung eines tatsächlichen Erlebnisses daherkommen (und als Mischformen von allen dreien). Nicht selten haben sie etwas Unheimliches an sich, eine Beunruhigung nistet in ihnen, die sich in manchen Fällen auch als Aberwitz, als Komik entpuppen kann (was sie selten weniger beunruhigend macht). Manchmal geht es geradezu possierlich zu, wie etwa in diesem Stück:
Barfuß stapfte ich durchs Gras und umrundete das Haus. Meine Brille hatte ich verlegt und, kurzsichtig wie ich war, prallte ich beinah mit ihm zusammen. Frontal stand es vorher, konzentriert und stoisch, als hätte es mich schon erwartet. Es stellte sich als Panzernashorn vor. Ich fragte mich, wie es ausgerechnet in meinen Garten gelangt war, wollte aber nicht unhöflich sein und hieß es willkommen. Daraufhin kam es gleich zur Sache. Es sei das letzte seiner Art und auf der Suche nach einem Weibchen. Seine Direktheit ließ mich erröten. Ich bin verheiratet, log ich und ließ meine Hand vorschnellen mit dem falschen Ring am falschen Finger. Das Panzernashorn schnaubte durch sein Riechorgan. Ich schreibe an einem Roman, setzte ich noch eins drauf. Das hatte gesessen. Das Panzernashorn machte kehrt und trabte davon.“
Aber auch hier ist die Bedrohlichkeit, die in so vielen Texten der Oberfläche schimmert, vorhanden. Diese Bedrohlichkeit richtet sich manchmal gegen das erzählende Ich, kann aber auch von ihm ausgehen; genauso kann es sein, dass das Ich der Bedrohung von etwas anderem (vor allem Tieren) Einhalt gebieten will. In diesen verschiedenen Arten von Bedrohlichkeit und dem damit einhergehenden Unbehagen entfalten einige der Texte ein erstaunliches Potenzial.
Die Dynamik der Formalie
Eines eint die Texte vielleicht (aber nicht mal da bin ich sicher), das eng verwoben ist mit den ausgeführten Aspekten der Bedrohlichkeit: der Eindruck des Unaufhaltsamen. Eine zwingende Logik, eine Folgerichtigkeit dirigiert sie, die man von Albträumen (oder von Kafka-Erzählungen) her kennt. Ich greife in diesem Zusammenhang nach dem wenig schmeichelhaft erscheinenden Wort Formalie, das für mich die Dynamik vieler Texte aber gut beschreibt. Denn obwohl sie oft den Einbruch eines Unbehagens, einen Kipppunkt, eine sonderbar anmutende Gestaltung thematisieren und es durchaus auch ein Ringen, ein Argumentieren, eine Auseinandersetzung gibt, lassen die Texte sprachlich wenig Raum für Ambivalenzen.
Es ist aber gerade diese Diskrepanz zwischen der Stringenz der Erzählweise und den immer wieder phantastisch anmutenden Sujets, zwischen der Bedeutsamkeit der Fragen und Themen, Ängste und Ereignisse und der Formalität der Abhandlung, die diese Texte so lesenswert macht. Ihre Sprache ist eine Darreichung (wie jede Sprache es ist), aber auch ein Entzug, eine Herausforderung, ein Widerstand, sie thematisiert das Verbindende, aber auch die Lücken zwischen dem Verbindenden. Man wird als Lesende*r konfrontiert und dadurch dem eigenen, oft tiefsitzenden, aber selten aufstehenden Unbehagen ausgeliefert.
Ich musste während der Lektüre öfter an die Prosa von Daniil Charms und Aglaja Veteranyi denken, auch an manche Texte von Julio Cortázar oder Leonora Carrington. Allen gemein ist, dass sie das Sonderbare, Unheimliche im (scheinbar) Alltäglichen aufspüren; dass sie die Gewöhnlichkeit vieler Abläufe dem Ungewöhnlichen, Befremdlichen überstülpen/angedeihen lassen. Hubingers Prosa entzieht sich auch dieser Tradition durch manche Komik, manche Nachdenklichkeit und vielfältige poetische Nuancen. Insofern habe ich vielleicht nur einen Aspekt ihrer Texte wirklich herausarbeiten können. Es muss an dieser Stelle genügen, die Leser*innen werden weitere Aspekte vorfinden, so viel ist sicher.
Am letzten Tag im Vogelnest existiert noch keine Vorstellung von dem, was kommen würde.
Sandra Hubinger: Von Krähen und Nüssen. Kurzprosa. Edition Keiper, Graz, 2022. 140 Seiten. Euro 21,–