Klaus Ebner liest Maë Schwinghammers Covids Metamorphosen
Ein Spiel mit Namen: Auf den ersten Blick glaubte ich ein Buch des römischen Dichters Ovid in Händen zu halten, doch es sind nicht Ovids Metamorphosen, sondern Covids Metamorphosen. Maë Schwinghammer schrieb ein Buch, das sich formell und bis zu einem gewissen Grad auch inhaltlich am römischen Epos orientiert, das Ovid während des Übergangs von der goldenen zur silbernen Latinität um das Jahr Null herum verfasste. Das antike Epos ist in fünfzehn Büchern überliefert, wobei das fünfzehnte nicht vollständig sein dürfte; Schwinghammer unterteilt den eigenen Text in sechzehn Abschnitte, die jeweils als „BUCH.eins“,“ BUCH.zwei“ etc. bezeichnet werden.
Maë Schwinghammer wurde 1993 geboren und wuchs in Wien auf. Studiert Sprachkunst „als Legitimationsstrategie für missglückte Wortspiele“. Schreibt Lyrik, Theaterstücke und Hörspiele. Die eigene nicht-binäre Wahrnehmung stellt die Themen Identität, Gender und Gesellschaft in den Mittelpunkt von Schwinghammers literarischem Werk.
Jede Seite von „Covids Metamorphosen“ beginnt mit einer römischen Zahl als Nummerierung und enthält zumeist drei Strophen. Diese sind mehr oder weniger Fließtext, der sich auf vier bis höchstens sieben Zeilen verteilt. Die erste und dritte Strophe sind linksbündig formatiert, die mittlere rechtsbündig, wodurch ein homogenes und an antike Strophenformen erinnerndes Bild entsteht, ohne Letztere zu kopieren. Vereinzelt treten Seiten mit vier Strophen auf, oder eine Strophe wirkt unvollständig, womit sie den üblichen Fluss unterbricht. Mit der Groß- und Kleinschreibung hält Schwinghammer es wie in einer romanischen Sprache oder im Englischen, allerdings werden auch Eigennamen klein geschrieben.
Cover © Klever Verlag
Geschlecht, Gender und Transsexualismus sind zentrale, aber keineswegs aufdringliche Themen. Ich bin geneigt zu sagen, dass man aufmerksam lesen muss, um sich dieser Thematik im Buch tatsächlich bewusst zu werden. Andererseits ergeben einige Passagen nur mit diesem Hintergrundwissen einen Sinn. Eine der deutlicheren Stellen, mit dem lyrischen Ich gesprochen und doch mit autobiografischen Zügen von Maë Schwinghammer, findet sich in „BUCH.vier“:
Ich entkomme nicht. Als mann in die flut gestiegen, vermengt mit dem anderen und daraus entstiegen. Ich scheine keines sowie beides zu sein. Ein doppeltes einzelgeschöpf, das um seinen doppelcharakter nicht weiß oder, nur zu gut. In sich tragend den geschlechtsverwirrenden zauber einer verlorenen quelle einer verworrenen zeit.
Das Buch vermengt Rahmen und Inhalte von Ovids Jahrtausendwerk mit sehr persönlichen Empfindungen und Selbstreflexionen; eine Technik, die gerade in der Lyrik häufig vorkommt. Die Stränge sind so eng miteinander verwoben, dass es gar nicht leicht ist, die beiden Aspekte auseinanderzuhalten – was ohnehin nicht sein muss.
Mythische Referenz
Schwinghammer setzt zahlreiche Referenzen, bezieht sich auf Personen, die im Epos von Ovid vorkommen und bereits dort höchste Konzentration einfordern, wenn man einigermaßen folgen will. Aus diesem Grund sind einzelne Strophen in „Covids Metamorphosen“ fast auf eine Aufzählung antiker Namen reduziert, wie in diesem Ausschnitt aus „BUCH.vier“:
Idas, hodites, prothoenor, hypsos, emathion, broteas und ammon. Ampikos, lampetides, mit plektron in händen, spielt sein lied in der unterwelt zu end, sein mörder: pedasos. Pelates, melaneus, dorylas, halkyoneus, klytios (…)
Eine nützliche Hilfe bieten die Quellenangaben, die sich am Ende jeder Seite befinden. Sie verweisen auf den jeweiligen Abschnitt im römischen Epos. Diese Angaben folgen meist dem Muster „316–388: salmacis & hermaphroditus“ oder „346–795: alkyone & thetis“. Dabei ist zu beachten, in welchem Buch sich die Leser*innen gerade befinden, denn der Bezug gehört jeweils zum gleichen Buch bei Ovid. An den Zählern lässt sich ablesen, dass die zirka fünfzehn Zeilen, die Schwinghammer auf einer Seite formuliert, mitunter gleich vierhundert Versen in Ovids Metamorphosen gegenüberstehen. Verknappung, Destillation mythischer Essenzen und die Verschmelzung mit der aktuellen Thematik sind eine logische Folge daraus.
Maë Schwinghammer schreibt aber nicht einfach eine Geschichte mit mythischen Anleihen, sondern verwebt die lyrische Sprache zu einem rhythmischen, geradezu musikalischen Kunstwerk. Ab und zu bewirken Anforderungen an die Rhythmik, gehäufte Partizipien und Ellipsen ungewohnte Satzstellungen. Die folgende Strophe aus „BUCH.sieben“ möge den ästhetischen Duktus illustrieren:
Wenn sie, wenn ihr, hinter mir seid, wünsche ich mir medeas geflügelten drachen. Dann würde ich über die lüfte entfliehen. Was ich von dort oben wohl überblicken könnte? Verwandlungen wohl, landstriche, die alle von menschenhand gezeichnet sind. Oh, mir schwant, ja schwant bei kyknos, ich würde mich vom drachen stürzen.
Gegen Ende hin werden die Strophen kürzer, halten sich nicht mehr an die ursprüngliche Formvorgabe. „BUCH.dreizehn“ besteht überhaupt aus Dialogen, in denen zwei Stimmen durch Links- und Rechtsbündigkeit gekennzeichnet sind. Am Ende des kurzen „BUCH.vierzehn“ plötzlich Schwinghammers direkte Adressierung dessen, was in diesem Buch passiert:
Ich verdichte mich, wie es die letzten der fünfzehn bücher tun. Die seiten werden weniger und zu viel bleibt noch zu erzählen.
Solcher und anderer stoff lässt dringen zur tiefe der quelle, aus der wir diese geschichten, diese verwandlungen, schöpfen, keine mythen sehe ich, ich sehe menschen und ihre leben vor mir.
Und was hat es mit COVID auf sich?
Der Buchtitel spielt auf die Änderungen an, welche die Pandemie verursacht hat, aber keine Bange: Das ist keiner der vielen COVID-Erlebnisberichte, die derzeit publiziert werden! Maë Schwinghammer schrieb dieses Buch wohl während der Pandemie; das ist der erste Zusammenhang. Und zweitens enthalten die Veränderungen der Gesellschaft, die hier, insbesondere in Verbindung mit Gender-Identitäten, angesprochen werden, einen zwar weitläufigen, aber intrinsischen Bezug zu den Umwälzungen, die durch das Virus ausgelöst wurden und werden.
Man sollte sich ausreichend Zeit nehmen, Schwinghammers Buch zu lesen. Oder besser: sich damit auseinanderzusetzen. Manche der Mythen, die von Ovid erzählt werden, sind durchaus bekannt, womöglich aus dem Lateinunterricht während der Schulzeit. Andere hingegen nicht. Wer allen Parallelen und Anspielungen auf die Schliche kommen möchte, wird nicht darum herumkommen, sich auch in das römische Monumentalwerk zu vertiefen, das nicht nur in lateinischen Ausgaben, sondern auch in mehreren deutschen Übersetzungen erhältlich ist. Auf unsere Kosten kommen wir bei „Covids Metamorphosen“ jedenfalls mit oder ohne Ovid.
Maë Schwinghammer: Covids Metamorphosen. Klever Verlag, Wien 2022. 104 Seiten. Euro 18,–