Jelena Dabic liest Sophie Reyers Wolken an der Macht
Seit „Wolken an der Macht“ (2019) sind schon etliche weitere Gedichtbände und Prosatexte der äußerst produktiven Autorin und Komponistin in diversen österreichischen und deutschen Verlagen erschienen, dennoch gibt der mit ansprechenden fotografischen Arbeiten (Brigitte Sasshofer, Nikolaus Scheibner) versehene Band einen Eindruck von Reyers aktuellem lyrischem Schaffen.
Cover © edition zzoo
In formaler Hinsicht sind eine fragmentierte und manchmal reduzierte Syntax, Alliterationen und gelegentliche Sprachspielereien ihre typischen Elemente. Die Autorin scheint jedes breit erzählende Moment zu scheuen, sehr viel, ja fast alles bleibt bewusst verschlüsselt, rätselhaft, nicht selten geradezu hermetisch. Das kann sich aber auch sehr schön anhören:
bau in mir die Hütte Herzknitterkind (…) als Lockenlaub und anderen Firlefanz der Tanz der Wasser an denen du kreiseziehender Stein erblindest
Die Jahreszeiten und der Tod
Alle Gedichte sind konsequent ohne Titel gehalten, was die Abgrenzung der einzelnen Texte etwas erschwert. Ebenso schwierig ist es stellenweise zu erkennen, ob es sich vielleicht um einen Gedichtzyklus handelt. Die jeweils ganz eigene Lesart bleibt damit letztlich dem Leser, der Leserin überlassen. Sehr viele der mal kürzeren, mal längeren Gedichte sind in Landschaftsbilder eingebettet; immer wieder sind das winterliche Landschaften mit Schnee, der öfters als Motiv aufblitzt.
Komm steh mit mir zwischen Seen dieses Frieren das Schönste zwischen Kälte und Kälte gespannt komm steh
Oder noch eindeutiger:
dich zu begraben in einer Landschaft durch die noch Leben steigt: Schnee atmet Schnee
Auch verregnete, vernebelte und schlecht sichtbare Orte und Gegenden tragen ganz wesentlich zur Schönheit dieser Gedichte bei. Städtische Motive scheinen so gut wie gar nicht auf, am ehesten noch der Blick aus dem Wohnungsfenster in eine verregnete oder verschneite Landschaft. Sommerliche Bilder sind fast immer am Land angesiedelt, nicht selten auf einer vor Insekten lärmenden, aber ansonsten stillen Wiese in der Mittagshitze. An manchen Stellen erfährt die Schilderung der Natur eine unheimlich-artifizielle Erweiterung, die die Aussage des Bildes und der angedeuteten Gedanken bewusst halb im Unklaren lässt:
stumme Bäume Schlafwald macht Geräusche (...) dunkle Mulde Du Graben wenn Haar flattert dich Nebel heben: Himmelswiese
Ein weiteres Motiv, das besonders in der ersten Hälfte des Bandes relativ oft vorkommt, ist die Vergänglichkeit der Zeit. Es ist nicht immer klar, ob das zu schnelle oder zu langsame Vergehen der Zeit beklagt wird, meist in Form von lyrischen Miniaturen. Solche Gedichte haben etwas Haiku-artiges an sich. Manchmal wird aber auch in die Zukunft vorgegriffen oder in ihr späteres Empfinden als Vergangenheit. Die wiederholte Evokation des Sommers in der Wiese (und der verschneiten Landschaften) kann gleichsam als Erinnerung an eine für immer vergangene Kindheit gelesen werden und damit als eine andere Ausdrucksart für das Staunen über das Dahinrasen der Zeit.
Gestalten dünn als Insekten bewegen sich endlich am Ziel das heißt es ist noch weit zu gehen
Oder:
Später Später noch einmal über die Wiesen gehen die derselbe Wind frisiert wie gestern
Erinnerungen und die Jetztzeit
Das Bewusstsein darüber, dass Zeit vergangen ist und das lyrische Ich wie das angesprochene Du älter geworden sind, wird in etlichen Gedichten erkennbar. Immer wieder sind Gedanken über Vergänglichkeit und das Ineinander der Ebenen von Früher, Später und Jetzt in eine sommerliche Stille eingebettet. Das verleiht den ästhetisch aufgeladenen Landschaften und Momenten oft ganz unerwartet eine melancholische Grundstimmung.
später, ist Sommerwiese, und ich erinnere mich: Dieses dein Kind-Gesicht, heute nicht einmal satt und alt
Oder:
Sommer sagen wir Wespen in Saftgläsern Mückenstiche die roten Pusteln
Nicht weit vom Zeitmotiv ist schließlich das Vergänglichkeitsmotiv angesiedelt. Überraschend oft spielt die Autorin mit leisen Todesassoziationen. Mehrmals ist es der eigene imaginierte Tod, wenn auch mit einem Augenzwinkern: „mein Grabmal als Bildschirm: Digital-Epitaph“. Das Du ist von solchen unheimlichen Vorstellungen freilich nicht ausgenommen: „Hier aber liegen nur alte / Glieder“, „und man wird dich / begraben begraben“.
Als Kontrast dazu blitzen immer wieder Momente aus der Kindheit auf. Es kann sich dabei um durchaus harmonische Szenen wie folgende handeln:
„und der Vater in der Erinnerung noch ich armes welsches Teufli singt während er aus Pappelteichs Holz eine Flöte schnitzt
Oder aber das Motiv Kindheit taucht bloß als flüchtige Erinnerung auf, ohne eine bestimmte Szene zu schildern. Dabei kann es sich um Begriffe wie „dein Kindheitswort“ oder „das Knirschen deiner Kindheit“ handeln oder um die Abwandlung eines Kinderliedes: „Freut euch alle sind schon da“. Eines der kurzen Gedichte ist im Stil eines Abzählreims verfasst, auch wenn es inhaltlich keine Momente der kindlichen Lebenswelt enthält. An anderer Stelle wird ein alleingelassenes, ungeliebtes Kind beklagt, ohne das das Motiv in einem anderen Text weitergeführt würde.
Der Erinnerung an die Kindheit oder bloß ihrer Evokation stehen ganz anders geartete Motive gegenüber. Es sind Reminiszenzen der Gegenwart, hochaktuelle Fragestellungen, Schlagwörter und Themen, nicht selten durch Anglizismen ausgedrückt und oft in kritischer Absicht. Manchmal ist ein ganzer Text oder eine Strophe fast ausschließlich aus solchen Begriffen gebaut, freilich nur, um ein anderes Thema, etwa eine Liebesbeziehung, zu konturieren:
Sind Headlines Balken zwischen den Augen in deinem Haar drehen sich Windräder wie Jetlag beim Tod eines Liebsten sei mein Ladekabel Babe Fracking-Apparat Ich der Kopf ist ein Motor
Ob es nun das ADHS-Syndrom, Depressionen, die besagten Windräder oder einfach der Mittelstand ist: Meistens dienen die kurz erwähnten Begriffe dazu, gesellschaftliche Fragen kritisch zu kommentieren. Stellenweise bleibt aber unklar, wogegen oder gegen wen sich die Empörung und die Kritik richten.
Nicht zuletzt sind diese Gedichte oder Teile davon auch Lautpoesie in sprachspielerischem Sinne. Reyer arbeitet äußerst gern mit Alliterationen und Assonanzen, was nicht ohne Witz ist:
wenn Seelenlichter so schweigen über Schatten zerstreut leuchtet Sonnenschein noch würdevoll über verstrahlte Erden ACHTUNG: RADIOAKTIVITÄT
Wortneuschöpfungen, englische Ausdrücke, ungewohnte Begriffskombinationen oder der unerwartete Einsatz existierender Fachbegriffe („Eigenkapitalaufstockung“) lassen die Texte dieses Bandes frisch und kurzweilig wirken, auch dann, wenn sie beklemmende Themen zum Inhalt haben.
Sophie Reyer: Wolken an der Macht. Edition Zeitzoo (ZZOO), Wien, 2019. 129 Seiten. 12,20 Euro.