Kirstin Breitenfellner liest Ilma Rakusas Kein Tag ohne
In der Nachbemerkung zu „Kein Tag ohne“ bezeichnet Ilma Rakusa ihre Gedichte als „spontane Notate, Traumprotokolle, Reflexionen über Bilder, Lektüren, politische Ereignisse und pandemische (Ver-)Stimmungen“ sowie als „Tagesgedichte, streng datiert, aber mit offenem Horizont“. Entstanden sind sie zwischen dem 22.10.2020 und dem 22.02.2022 zu, wie die Autorin meint, „unterschiedlichen Themen, Befindlichkeiten, Einfällen“. Begleitet hätten sie dabei u.a. Texte von Ilse Aichinger, Friederike Mayröcker, Elke Erb, Thomas Kunst, Clemens J. Setz, Valzhyna Mort, Serhij Zhadan.
Cover © Droschl Verlag
Wer nun glaubt, es hier mit den weit verbreiteten Reflexionen in Prosaform zu tun zu haben, die, untereinandergeschrieben, die Form von Gedichten nur nachahmen, irrt sich. Rakusas Gedichte sind zumeist schmal und lang, sie kennen Reime, wenn auch keineswegs durchgängig, und sie befleißigen sich trotz der teilweise tagesaktuellen (sozial-)politischen Themen – von der Corona-Pandemie und der Wiedereroberung Kabuls durch die Taliban, dem Anschlag in Wien und dem Genozid an den Uiguren bis zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in Belarus, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und zum Klimawandel – eines hohen Tons, bei dem das Offene, Schwebende, Lichte dominiert.
Seismographin der Gegenwart
Das Diktum, dass Dichterinnen und Dichter Seismographen seien, trifft auf diese Autorin in hohem Maße zu. Sie lebt nicht bloß in ihrer Welt, sondern setzt sich mit dem Außen auseinander. Das betrifft nicht nur weltpolitische Ereignisse, sondern auch die Jahreszeiten und die Natur – das Staunen über die Bäume, den Schnee – oder sogar Dokumentationen im Fernsehen: „(…) die Welt kommt frei Haus / ich muss sie nur willkommen heißen / ich bin schon drin“.
Zu Anfang des Bandes dominieren noch Schock und Angst im Angesicht der Covid-19-Pandemie und der rigiden Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus.
(…) das Zimmer drückt der Herbst fällt in die Beete stete Meldungen im Netz: es wird noch schlimmer! und grimmig was da kommt der Mut sinkt in die Fersen dort bleibt er still und jetzt? Gedichtverlauf mit ungewissen Zeilen die Worte streiten um Gewicht und ich versuche mein Gesicht zu bewahren (…) 25. Oktober 2022
Im Laufe der Zeit gewinnt Rakusa an Sicherheit, ohne sich allerdings gegen die Zumutungen der bewegenden Zeiten abzuschirmen. „(…) es gibt Gelingen manchmal in den kleinen Dingen / wenn eine Silbe zu der andern passt als wär es Liebe / und Schweigen eine Wiege wird für Schlaf“, notiert die Autorin bereits vier Tage später. Aufheitern kann sie ihr Enkelkind, dem sie witzige Texte widmet. Naturgemäß verliert sich die 75-Jährige auch in Kindheitserinnerungen, Spitalsaufenthalte kommen dazu, sogar ein Familienkrach zu Weihnachten, aber stets bewahrt die Dichterin die notwendige Distanz, die aus autobiographischen Erlebnissen Literatur macht. „Dass der Tag nicht ende ohne Zeile // die innere Stimme zum Zug komme / sie spricht und spricht / je stiller die Welt desto lauter / sie will Gewicht“, beginnt das Gedicht vom 3. Januar 2021.
Zwei Tage zuvor wirft die Autorin einen der zahlreichen vollendeten Texte aufs Papier, der hier als Beispiel für ihre traumwandlerische Sicherheit und nonchalante Kunstfertigkeit zur Gänze zitiert werden soll.
Der Schneerausch wird kommen und vorübergehen gepachtet vom Schlaf in langen ungezäunten Räumen Der Schlaf wird kommen und vorübergehen beschworen von liedhungrigen alten Träumen Die Träumer werden kommen und vorübergehen entsandt in maledeite Länder Die Länder werden kommen und vorübergehen unterwegs zu ihrem Ende Das Ende wird kommen und vorübergehen es sucht sich seinen Anfang Der Anfang wird kommen und vorübergehen verschluckt vom Stiefweiß der Schneewehen
Rakusas Texte streben zum Hellen, sie neigen zum Verstummen, das die letzten sieben Zeilen des Gedichts „Schnee“ vom 12. Feburuar 2021 feiern.
die Stille hat das Sagen stiller als still und vokallos so: Schhhhhhhhhhhhhh ein Hauch von Laut der Rest ist Schweigen
Die Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter wurde 1946 in der Slowakei geboren. Sie lebte in Budapest, Ljubljana und Triest, bevor sie 1951 nach Zürich zog. Dort studierte sie Slawistik. Neben ihrer Lehrtätigkeit am Slawischen Seminar übersetzte die polyglotte Autorin u.a. Anton Tschechow, Mariana Zwetajewa, Marguerite Duras, Danilo Kiš, Imre Kertész und Peter Nádas ins Deutsche. Bei den in der Nachbemerkung erwähnten Autorinnen und Autoren fällt auch ein Naheverhältnis zu österreichischer Literatur auf. An und ab verfällt Rakusa in ihren aktuellen Gedichten auch ins Englische – als einer Sprache, in der sich Gefühle frank und frei und vor allem kurz und knapp und ohne Peinlichkeit ausdrücken lassen.
Poesie und Politik
„Gedicht, du schaffst es nicht / die Welt zu verändern“, heißt es am 16. März 2021. Das stimmt, wenn man es politisch versteht. Das darauffolgende Gedicht vom 17. Mai 2021 (eine Variation mit Alliterationen – eines von Rakusas bevorzugten Stilmitteln – über den Regen) eröffnet dennoch eine neue Welt. Innerhalb des Unvollkommenen entdeckt diese Autorin immer wieder Perfektion.
Regen rührt ein Grau einen Nerv repetiert ein Gimpel eine Note rinnt es gegen eine Norm riecht es glücklich erdig nass reizt ein Grashalm eine Nessel rügt ein Glanz einen Nebel redet einer gegenständlich: es nieselt richtig: es genügt ein Name
Das Wahre deckt sich bei Rakusa nicht mit dem, was sein soll. Es lässt sich auch nicht einfangen mit Worten, höchstens umtanzen. Das tut Rakusa in diesem melancholisch beschwingten Band. In diese pulsierende Ruhe bricht der russische Überfall der Ukraine, der sich für Rakusa bereits am 3. Februar 2022 mit „Truppen in Aufmarsch“ ankündigt, wenn „ein düsterer Autokrat / mit Allmachtsphantasien / die Ukraina beim Wort nimmt: / Grenzland auf Russisch“. Diesem Krieg sind noch an die zehn Gedichte gewidmet, dann endet der Band. Ob er es war, der die Autorin zum Verstummen gebracht hat? Wenn ja, dann vermutlich nur vorübergehend, bis zum nächsten Gedichtband, der auch den hässlichen Realitäten wieder fest ins Auge schauen wird.
Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Gedichte. Droschl, Graz, 2022. 247 Seiten, Euro 24,–