Die Regisseurin Renate Pittroff und der Komponist Christoph Theiler sind schon seit vielen Jahren und meist als Künstler*innenkollektiv „wechselstrom“ mit zahlreichen Projekten, die alle Kunstrichtungen experimentell, forscherisch und produktiv verbinden und transmediale Räume eröffnen, weltweit aktiv und präsent. Zudem betreiben sie in der Wiener Grundsteingasse den Off Space Galerie wechselstrom, in dem sie schon zahlreichen Künstler*innen aus aller Welt, die neue, Konventionen hinterfragende ästhetische Wege beschreiten und dabei auch Wort, Bild und Klang in Kooperation oder Personalunion verbinden, Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten boten. Günter Vallaster befragt Renate Pittroff und Christoph Theiler zu ihren breit gefächerten transmedialen Aktivitäten.
Ihr seid zumindest euren Bildungswegen nach auf Regie bzw. Musik spezialisiert. Wie hat sich die Zuwendung zum Transmedialen entwickelt?
Irgendwann hat man einfach die Schnauze voll, eine Sinfonie nach der anderen zu komponieren bzw. eine Inszenierung nach der anderen zu gestalten. Zwar hat dieses klassische Karriereverfahren den sogenannten Distinktionsvorteil – man ist sozusagen Expert*in in einem sehr eng begrenzten Bereich des künstlerischen Schaffens – aber befriedigend ist das nicht. Warum also nicht ins Risiko gehen, den Distinktionsvorteil aufgeben, um sich Dingen außerhalb seiner Kernkompetenz zu widmen, um neue Zusammenhänge herzustellen und um Kunst dort anzusiedeln, wo Formbildungsprozesse im Entstehen sind.
Wie kam es zur Gründung von „wechselstrom“ und zum Namen?
Die teilweise Namensüberlappung mit der Rockband AC/DC ist uns erst nachträglich aufgefallen. Der Name „wechselstrom“ bildet unsere Arbeitsgrundlage ab: Beweglichkeit zwischen gegensätzlichen Polen, Pulsieren am Schwellwert soziographischer Kommunikationssynapsen. wechselstrom ist ein Label, um heterogenen Positionen ein Refugium zu bieten, schräge Ideen und Projekte zu popularisieren; so betrachtet ist die Nähe zur Rock-Musik durchaus vorhanden.
Ein zentraler Bereich eurer künstlerischen Aktivitäten ist die Social Sculpture, ein Begriff, der auf Joseph Beuys zurückgeht und künstlerisches Handeln mit ausgeprägtem sozialen Engagement meint und auch sehr stark den öffentlichen Raum einbezieht, in dem auch jeder Gegenstand potentiell kunstfähig werden kann. Wie ist eure Interpretation der Social Sculpture und wie sind eure Erfahrungen damit? Ihr habt ja schon einige sehr wichtige, couragierte und nachhaltige Projekte realisiert wie „REPLY: Installativer Kommentar zu Mozart“ (von Christoph Theiler), bei dem anlässlich des Mozartjahrs 2006 Mozarts Bittbriefe an seinen Gönner Michael Puchberg wortgleich an zahlreiche prominente Politiker*innen, Institutionen und Firmen verschickt wurden, allerdings mit Unterschrift von Christoph Theiler. Die Antwortschreiben wurden an mehreren Orten ausgestellt und bildeten auch die Grundlage für das Hörspiel „Reply Mozart“:
Oder das Urban Gardening Projekt „samenschleuder“ (von Renate Pittroff) 2009, bei dem Pflanzensamen auf Autoreifen aufgetragen wurden, um die Straßenränder zu begrünen.
Das Problem mit der Kunstform „Social Sculpture“ ist ja, dass es oft nicht als Kunstwerk verstanden wird. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Die Gründung der Grünen Partei oder das Pflanzen von Bäumen als Kunstprojekt darzustellen, gelang auch zu Beuys’ Zeiten nur im institutionellen Kontext einer Universität oder der Documenta. Das Problem ist ja, dass das Kunstwerk aus sich selbst heraus vermitteln muss, dass es ein Kunstwerk ist. So knüpfen wir hier eher an Christoph Schlingensief an, denn an Joseph Beuys. Social Sculpture-Projekte durchlaufen zuerst eine stark überdehnte Ästhetik, um als künstlerischer Akt wahrgenommen zu werden, und entfalten ihr sozialkritisches Potential erst im Nachhinein.
Social Sculpture verwirklicht sich im öffentlichen Diskurs, der die Aufmerksamkeitsschwelle dann erreicht, wenn Konfrontationen mit Teilöffentlichkeiten erfolgen.
Sehr interessant und essenziell bei euren Projekten ist auch die künstlerische Verbindung von Wort, Bild und Klang, die ihr etwa in eurer visuellen bzw. transmedialen Poesie zum Ausdruck bringt, zuletzt in „Threshold“ von Renate Pittroff zum Roman „Ulysses“ von James Joyce, ein Ausschnitt daraus wurde auch mit dem Titel „Filmhieroglyphen“ in der transmedialen Poesiegalerie 2022 ausgestellt, oder „SCRIBO“ von Christoph Theiler, u. a. auch als Performance „SCRIBO“ bei der Vernissage der transmedialen Poesiegalerie 2020 und mit weiteren Beiträgen und Exponaten zur transmedialen Poesiegalerie aus der Serie „Schriftschnitte“, die aus „SCRIBO“ entstand. Wie ist euer Zugang zur visuellen bzw. transmedialen Poesie?
Hier befinden wir uns im Kernbereich des Labors. Daraus ergibt sich ein höchst spielerischer, experimenteller und im besten Sinne naiver Zugang. Die Ergebnisse inkludieren dann immer auch einen beträchtlichen Anteil an Zufall. Auftragserledigung ist nicht so unser Ding. Die Laborarbeit unterteilt sich dabei in Zeugwerk (Kunstwerk) und Werkzeug (Verfahren), und du hast zwei Beispiele genannt: „Threshold“ ist ein fertiges Werk und „SCRIBO“ ist ein Tool, mit dem etwas Spezifisches erzeugt werden kann.
Ein jüngstes Projekt, das auch sehr schön zeigt, wie mit einfachen Materialien den Dingen auf den Grund gegangen werden kann, ist der Workshop „Interface“ (von Christoph Theiler), in dem die Instrumente zur Klangerzeugung, darunter einfache Synthesizer, nach Anleitung selbst hergestellt wurden und die Klänge und Geräusche im Entstehungsprozess mitverfolgt werden konnten, Elektronik in Handarbeit sozusagen. Aus dem Workshop ist auch das Ensemble „Waves Improvisation Cluster“ hervorgegangen. Welche Bedeutung kommt dem DIY im künstlerischen Prozess zu und wie wird es mit dem „Waves Improvisation Cluster“ weitergehen?
Christoph Theiler: Für den Workshop, der im Rahmen der 100-Jahrfeier der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) stattfand, und von dort finanziert wurde, habe ich bewusst versucht, Leute aus dem außermusikalischen Bereich anzusprechen. So waren unter den Teilnehmer*innen Literaten, Theaterleute, Menschen aus dem Pädagogikbereich, aus der VJ-Szene, der Performancekunst, Malerei, Fotografie und natürlich auch Musik. Es war mir wichtig, die Zugangsweise von Leuten zur elektronischen Musik kennenzulernen, die sozusagen keine diesbezügliche Vorbildung haben; und in der Tat, da lernt man selbst mehr, als man zunächst vermutet.
DIY halte ich für den essenziellen Einstieg in jeden Kognitionsprozess. Der Computer mit seinem Wischbildschirm verleitet dazu, genau das zu machen, was die Entwicklungsabteilung der Hersteller vorgibt. Diese Möglichkeiten sind selbst in ihrer unübersehbaren Vielfalt paradoxerweise sehr beschränkt – für künstlerische Tätigkeiten eigentlich nur ein Hilfsmittel, um bestimmte repetitive Arbeitsprozesse zusammenfassen zu können. Der „Waves Improvisation Cluster“ war ein guter Start, von dem aus Projekte in viele Richtungen weiterentwickelt werden können.
Das „Waves Improvisation Cluster“ basiert ja auch auf eurem spannenden Zugang, die Konventionen, auch Limitierungen bestehender Musikinstrumente aufzulösen und selbst Instrumente und Tools zur Klang- und Geräuscherzeugung zu entwickeln, die zuletzt u. a. auch bei der Vernissage der transmedialen Poesiegalerie 2022 in eurer Performance „Sparks“ zu hören waren. Christoph, du sprachst in diesem Zusammenhang mal von „Silbenketten verschiedenster selbstgebastelter Musikinstrumente, die als Interfaces dienen, widerständig sind und ihrer Variationsbreite zur Verfügung stehen“. Ein Beispiel hierfür ist euer Projekt „Liquid Control / Fluid Control“ (2016), bei dem Wasser zum Klingen gebracht wurde. Wie kann man sich das vorstellen und was ist der Unterschied zwischen „Liquid Control“ und „Fluid Control“?
„Liquid Control“ werden die Performances benannt, und „Fluid Control“ ist die Bezeichnung für das wasserbetriebene Interface.
In der Computermusik haben wir den Nachteil, dass man nicht direkt in den Strom greifen kann, um den Sound zu beeinflussen, so wie bei analogen Instrumenten. Bei diesen muss man beispielsweise umso mehr Kraft aufwenden, je stärker der Klang sein soll. Dazu kommt, dass man in der Analogwelt immer auch einen körperlichen Rückschlag spürt – um ein Beispiel zu nennen: Der Trommelschlägel springt zurück, sobald man auf die Trommel schlägt – der sich mit dem eigenen Körper in Resonanz befinden kann, und der dadurch musikalisch nutzbar wird. Das gibt es kaum in der Elektronik oder der Digitalwelt. Wir als Künstlerinnen brauchen deshalb Tools/Interfaces, die sich widerständig verhalten, die einen Kraftaufwand erfordern, der nach Möglichkeit in Zusammenhang zum Klangergebnis steht. Wir Musikerinnen würden uns z. B. Drehregler oder Fader wünschen, die umso kraftvoller bedient werden müssen, je größer der Grad der Einstellung ist. Wir hätten dadurch eine spürbare Antwort auf unser Musizieren.
Das Tool „Fluid Control“ ist hierzu ein möglicher Ansatz: Das Gewicht in Verbindung mit dem Hin-und Herschwappen des Wassers in der Box erzeugt einen Rahmen, in dem der Körper des/der Musiker*in mit dem Interface und den dadurch verbundenen Klangänderungen körperlich interagieren kann.
In eurer Galerie wechselstrom habt ihr schon vielen transmedialen Künstler*innen aus aller Welt Ausstellungs- und Auftrittsmöglichkeiten geboten, darunter etwa in der Reihe „alternating current“ auch etlichen Autor*innen. Dadurch hat sie sich als ein Labor und eine Schaltzentrale für avancierte Wort-, Bild- und Klangkunst im internationalen Kontext etabliert, in der Funktion vergleichbar mit der Sturm-Galerie, die der Expressionist Herwarth Walden ab 1912 in Berlin betrieben hatte, nur eben auf der Höhe der heutigen Zeit, Dada 2.0 sozusagen. Was hat euch dazu bewogen, „wechselstrom“ auch mit einer Galerie zu verbinden und welche Bedeutung kommt dem Ort in der Grundsteingasse mit dem jährlichen Grundsteinfestival zu?
Dada 2.0, das gefällt uns!
Der Galeriebetrieb entstand dadurch, dass in der Grundsteingasse mehrere Galerien und Working Spaces angesiedelt sind, die 2- bis 3-mal pro Jahr kooperieren und zu einem gemeinsamen Termin Ausstellungen/Lesungen/Performances und Konzerte veranstalten. Dadurch ist ein reger lokaler und internationaler Austausch entstanden. Wir wollen Positionen präsentieren, die abseits des Mainstreams wichtige künstlerische Impulse setzen.
2014 wurde von euch, dem Medienkünstler Jörg Piringer und mir mit meiner transmedial-poetischen Anthologiereihe „raum für notizen“ in der edition ch in Kooperation mit der Alten Schmiede, ab 2016 auch mit der der Galerie wechselstrom gegenüberliegenden Kunsttankstelle Ottakring der Brüder Richard und Roland Schütz das Festivalformat „räume für notizen“ kreiert, in dem bislang transmediale Künstler*innen aus Österreich und zwölf weiteren Ländern aufgetreten sind und aus vielen weiteren Ländern und fast allen Kontinenten ausgestellt haben. In der kommenden fünften Ausgabe mit thematischem Schwerpunkt „Algorithmus“ werden vor allem elektronische und datenpoetische Positionen vertreten sein, mit künstlichen neuronalen Netzwerken, Code Poetry und Live-Coding. Was wird dem Publikum in Ausstellung und Performance geboten und was ist unter Live-Coding zu verstehen?
Live-Coding wurde vor etwa zehn Jahren, unter dem Titel „Algorave“ fand 2011 die erste Veranstaltung in London statt, entwickelt, und benutzt Computersprache in zweifacher Hinsicht: Einmal als poetisches Mittel selbst und zum anderen als Steuerelement, um wiederum poetische Ereignisse (Musik, Video, Literatur) live zu generieren. Zuschauer*innen erleben dann die sich ständig verändernde Codestruktur und gleichzeitig den daraus resultierenden Output.
Neben Shelly Knotts werden Andreas Bülhoff, Mara Genschel, Zuzana Husárová, Ľubomir Panák und Thomas Havlik auftreten. Der Bogen der Performances spannt sich von Algorave über „Liza Gennart“, einer künstlichen Autorin, Sound-Poetry bis zu experimentellen Onlinemagazinen und digitalen Performances, inkludiert also alle algorithmischen Formen der Gegenwart. Die Ausstellung zeigt weitere internationale Positionen von Nick Monfort, Felipe Cussen, Fabian Navarro u. v. a.
Seit der letzten, dem Zentenarium des „Ulysses“ von James Joyce gewidmeten Ausgabe der „räume für notizen“ ist auch eine Schreibmaschinenstation Teil des Festivals, in deren Zentrum eine Olivetti Lexikon 80 Magistratsschreibmaschine aus den 1950er-Jahren steht, die ursprünglich eigentlich zum Projekt „Auf eine Schreibmaschine“ (2016) von Renate Pittroff gehört. Später wurde sie von euch im „Klagelied einer Reiseschreibmaschine“ auch als Musikinstrument bzw. Klangtool eingesetzt, u. a. von Christoph Theiler zur Vernissage der transmedialen Poesiegalerie 2019 und von euch gemeinsam bei den „räumen für notizen“ 2020:
Was hat es mit der Riesenschreibmaschine auf sich?
Renate Pittroff: „Auf eine Schreibmaschine“ war eine Einladung an Autor*innen, die im Bereich experimentelle und avantgardistische Literatur arbeiten, z. B. Christian Steinbacher, Lisa Spalt, United Queendoms oder Peter Pessl.
Die Rahmenbedingungen waren: Es wurde ein Blatt Bütten-Papier bis zur Größe A0, so breit ist der Schlitten dieser speziellen Schreibmaschine, zur Verfügung gestellt. Die Autor*innen hatten bis zu vier Stunden Zeit, vor Publikum ein Typoskript auf dieser mechanischen Schreibmaschine zu verfertigen.
Es ging darum, eine Kulturtechnik, die nicht mehr genutzt wird, auszuprobieren und für den künstlerischen Prozess zu reaktivieren. Und darum, die Schichten von Verbesserungen, von „Fehlern“ und grafischen Möglichkeiten der Typen (z. B. das durch unterschiedlichen Anschlag produzierte tiefe Eingraben von Schrift ins Papier) sichtbar zu machen, die bei einem computergenerierten Text verschwinden.
Die Autor*innen waren von der Arbeit mit der Schreibmaschine so inspiriert, dass wir sie jetzt dauerhaft den Teilnehmer*innen an „räume für notizen“ zur Verfügung stellen.
Ihr betreibt nicht zuletzt auch eine eigene Edition. Was erscheint darin und was ist geplant?
Die Edition wechselstrom, 2009 gegründet, arbeitet z. Zt. an einem neuen Kunstbuch. Sie war ursprünglich als Dokumentationstool gedacht („Reply“, Kalbsembryonenverkostung“, „Sniffing Manual“) und entwickelte sich zu einer Kunstedition und Release-Plattform für CDs.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hinweis:
räume für notizen. festival für transmediale poesie
Mo, 30.01.2023, 19.00 Uhr, Alte Schmiede:
Andreas Bülhoff, Mara Genschel, Zuzana Husárová & Ľubomír Panák. Moderation: Jörg Piringer
Di, 31.01.2023, 19.00 Uhr, Kunsttankstelle Ottakring:
Performances zur Vernissage: Shelly Knotts, Thomas Havlik, wechselstrom (Renate Pittroff & Christoph Theiler). Moderation: Günter Vallaster
Mi, 01.02.2023 – Sa, 11.02.2023: Ausstellung „räume für notizen“ in der Kunsttankstelle Ottakring.
Öffnungszeiten: täglich 16.00 – 20.00 Uhr
Kuratiert von Renate Pittroff, Christoph Theiler, Jörg Piringer, Günter Vallaster.
Zuletzt erschien von wechselstrom (Renate Pittroff & Christoph Theiler): Operation. CD. Edition wechselstrom, Wien 2022. Euro 12,-. Bestellungen unter www.wechsel-strom.net