Nicole Streitler-Kastberger liest Julia Steinbichlers Lyrikroman Agerkrokodil
Manche Bücher lassen einen bass staunen. So geschehen mit Julia Steinbichlers Lyrikroman „Agerkrokodil“. Die Autorin ist Jg. 1992 und kommt aus Vöcklabruck in Oberösterreich. Sie schreibt Lyrik und Prosa und ist im Sozialbereich tätig. Studiert hat sie Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Sie lebt seit 2011 in Wien.
Mit „Agerkrokodil“ hat sie ein künstlerisch sehr eigenständiges Werk vorgelegt. Die Gattungsbezeichnung Lyrikroman habe ich so noch nicht gesehen, aber sie beschreibt durchaus treffend, was dieses Buch ist. Es besteht aus einer Fülle von Gedichten und Prosaskizzen, die zu einem Ganzen zusammentreten, das man durchaus als Lyrikroman bezeichnen kann. Folgt man den Texten des Buches, entsteht eine Coming-of-Age-Geschichte, die in „zwiebelburg“ beginnt und dort auch wieder endet.
Cover © Edition Melos
Der Titel macht neugierig. Das titelgebende Agerkrokodil ist vermutlich eines, das im oberösterreichischen Fluss Ager zuhause ist, und damit ist ein schönes Bild für die Bizephalität des Buches zwischen dem bodenständigen Oberösterreich und einer intellektuellen Exotik benannt. Dem Agerkrokodil soll man „die zähne“ ziehen, die „zähnt“, wie es in dem Gedicht heißt. Steinbichler vermischt gerne Dialekt und Hochsprache, die in dem Band eine durchaus produktive Liaison eingehen. Ohne Dialekt geht in Oberösterreich gar nichts. Das spiegelt auch der vorliegende Lyrikroman.
Zwiebelburg–Wien und retour
Die Abschnitte des Bandes lauten „zwiebelburg“, „adoleszenz“, „wean“ und „rückkehr nach zwiebelburg“. Das fiktive Zwiebelburg lässt einige Orte Ober- und Niederösterreichs anklingen. Aber die wirkliche Lokalisierung dessen, was erzählt wird, ist unwichtig. Es ist eine Kindheit und Jugend am Land sowie ein Studium in der Stadt. Letzteres wird von „onkel wolfgang“ für eine Frau als unnötig erachtet, wie es im Gedicht „onkel wolfgang lacht“ heißt: „was bringt es, wem bringt es?“ „und du bist vierzig und was hat das studieren gebracht? eine alte ohne plan, die chancen stehen schlecht“. Wenn nach einem Studium der Theaterwissenschaften dann solche Texte entstehen wie „Agerkrokodil“, muss man freilich jeder Frau nur zu einem Studium raten.
Der Klappentext verspricht einen „packenden Antiheimatthriller“, wohl wissend, dass das Wort Thriller bei vielen Interesse weckt. Doch ein Thriller ist er nicht, dieser Lyrikroman, ein Antiheimatroman in Lyrikform indessen schon. Man glaubt dieses Genre schon satt zu haben und sattsam zu kennen, aber Julia Steinbichler belehrt einen diesbezüglich eines Besseren. Einflüsse von Michael Haneke und Ulrich Seidl sowie Susan Sontag werden im Klappentext genannt. Ohne Zweifel verweist der Lyrikroman auf einen kulturellen Code, der besonders in Österreich boomt. Literarisch fühlt man sich an Helena Adler oder Ferdinand Schmalz erinnert. Denn die Sprachmächtigkeit Steinbichlers steht außer Frage.
Hochsprache, Dialekt und Kalauer
Die Autorin verfügt über ein breites sprachliches Repertoire und nimmt sich immer gerade das, was sie brauchen kann. Auch Englisches fließt wie natürlich in diese Sprachflut ein, etwa im Kurzgedicht „earning a living“: „die mama macht füße / der papa papier“. Steinbichler hat ein gutes Händchen für Szenen, die jeder aus seiner Kindheit kennt, etwa die spätabends noch fernsehenden Eltern durch die „glastür“ zu beobachten:
wenn es finster und zum schlafen ist steh ich auf und schau heimlich durchs milchglas sie sind da verschwommen seh ich sie hinter ihnen springen farben im fernseher stimmen flüstern irgendwo knistert musik
Misogynie ist stark verbreitet in der patriarchalen Männerwelt, einer Epoche, die nicht und nicht zu Ende gehen will in diesem Land: „ihr depperten weiber, scherts eich ham, lauts gfrast, schirchs gsindel“, hört man da schon einmal den Großvater aus dem Fenster schreien.
Im Gedicht „ormutschkal“ liest man über einen Nachbarn des lyrischen Ichs: „werner / ich hätt dich gern gerner“. Solche Kalauer sind jedoch die Ausnahme in dem Band, der sehr bewusst zwischen Hochsprache und Dialekt oszilliert und seine sprachlichen Mittel mit Bedacht setzt.
„Sie machens alle“
Derb wird die Sprache auch und vor allem dort, wo es um Sexualität geht. Diese spielt in dem Band eine gewichtige Rolle. Die Jugend ist geradezu fixiert darauf, alle Spielarten des Geschlechtlichen zu erkunden – und zu kruden Lösungen bereit: „ich hab mit der zu oft gefickt, ohne gummi. wenn sie schwanger is, mach ich das weg. man streut salz in die muschi, dann stirbt es. trocknet aus wie eine rosine.“ Über Marion in „traffic“ heißt es: „marion wusste früh was sie will, frühen verkehr und frühe mutterschaft, mit zwölf ersteres mit achtzehn zweiteres.“ Auch „tampons in wodka für den arsch“ kursieren in jugendlichen Gehirnen, Ärsche und Schwänze werden als solche tituliert. Die Hände der Männer greifen nur allzu gerne auf die „Hintern“ der Frauen. #Metoo lässt grüßen. Die Sprache der Geilheit ist eine kräftige: „du bist schon eine recht scharfe katze“, heißt es da, auch von „thaihaserln“ ist die Rede. Eine Stelle lässt unmittelbar an Ödön von Horváth denken, der im Theaterwissenschafts-Studium sicher vorgekommen ist: „Du Luder!“ „Du geile Sau!“ „Du Drecksau!“
Mitunter verirrt sich ein Reim in das verwegene Treiben:
die mama hat ihn so genervt da hat er sie einfach erstochen das hat sie so deserved ins herz vorbei an den knochen
Der Band kulminiert in einem großen Finale, in dem eine Geburtstagsfeier in einem Landgasthaus geschildert wird. Auch hier dominiert wieder das Derbe und Vulgäre: „Mitn Schwanz hin und her, es lebe der Geschlechtsverkehr!“ Freilich ist damit nur ein Teilaspekt des vorliegenden Lyrikromans angesprochen, der in einer sprachlich souveränen Manier um Fragen von Identität und Entwicklung kreist, eine Entwicklung, die sich am Ende schließt, wenn mit dem letzten Gedicht „da bua“, einem Baby, auf den circle of life angespielt wird. Fazit: Ein Buch, das jeder gelesen haben sollte, der ein Faible für krude Alltagsgeschichten aus der österreichischen Provinz (und nicht nur von dort) in sprachlich avancierter Form hat.
Julia Steinbichler: Agerkrokodil. Ein Lyrikroman. Edition Melos, Wien, 2022. 167 Seiten. Euro 24,–