Leopold Federmair liest Einfach um die Sonne von Jürgen Theobaldy
Vor Wochen versprochen für Leo von Theo 8. 10. 2021
Diese Verschen stehen handgeschrieben auf dem Titelblatt von Einfach um die Sonne, dem schmalen Gedichtband, den ich im Spätherbst 2021 bekam, weil die sonst so flinke japanische Post – scheinbar immer noch aus Angst vor dem Coronavirus – ausländische Postsendungen lange liegen ließ. In Prosa gesprochen: Vor Wochen versprochen, nach Wochen ausgeliefert. Ich habe das schmale Bändchen damals gleich gelesen, und zwar auf einem von Bambuswäldern flankierten, grasbewachsenen Erdwall zwischen zwei Bewässerungsteichen; einem Ort, wohin ich mich manchmal zurückziehe, wenn ich vom menschlichen Treiben genug habe und lieber den Enten und Reihern und Wolken zusehe. Es wird schon Anfang Dezember gewesen sein, in der Provinz Hiroshima ist der erste Winter mild, jedenfalls in Meeresnähe, erst zum Jahresende beginnt es in den Bergen zu schneien. Anfang Dezember sind die Ahornbäume tiefrot, der mächtige Gingkobaum vor dem Myofukuji, dem buddhistischen Tempel, strahlend gelb. Es fühlt sich an wie ein mitteleuropäischer Herbst: tagelangen Nebel kennen wir hier nicht, und wenn uns danach ist, fahren wir mit der Fähre auf eine Insel und erbarmen uns einiger Mandarinen, die niemand erntet.
Als Student in den siebziger Jahren hatte ich Bücher von Jürgen Theobaldy gelesen, den Gedichtband Zweiter Klasse und den Roman Sonntags Kino, beide im Rotbuch Verlag erschienen. Danach wechselte der Dichter zu Rowohlt, einem der berühmtesten deutschen Verlage, und dann muß es irgendwann einen Bruch gegeben haben, seit den neunziger Jahren erscheinen seine Gedichte in kleineren, auf Lyrik spezialisierten Verlagen. Ich glaube, so ist es damals vielen Autoren ergangen, nach der Hoch-Zeit in den Siebzigern, als auch Lyrikbände und sogenannte schwierige Literatur von Tausenden gelesen (oder wenigstens gekauft) wurden, wurden sie jetzt in Nischen gedrängt. Und so ist Jürgen Theobaldy auch aus meinem Blickfeld verschwunden.
Foto © Leopold Federmair
Bis mich eines Tages hier in Hiroshima eine Sendung erreicht, die ein – ebenfalls schmales – Buch enthielt: Hin und wieder hin, mit dem Zusatztitel „Gedichte aus Japan“, 2015 erschienen. Gedichte nach Japan, wieder hin. Ich nahm das ebenfalls schmale Bändchen auf eine Fahrradreise in die Inselwelt der Setonaikai (zwischen den Hauptinseln Honshu und Shikoku) mit und las es unterwegs. Theobaldy hatte meine „japanischen“ Bücher gelesen, er selbst hatte das Land mehrmals bereist, war und ist aber immer noch neugierig – wie ich selbst, weil es hier Dinge gibt, die man auch nach vielen Jahren nicht recht versteht. Immer noch mehr neugierig, sollte ich sagen. Seither tauschen wir unsere Bücher aus, ein alter Brauch zwischen Autoren, vermutlich längst aus der Mode gekommen, wir lesen einander, einige Erzählungen in dem Band Der unsichtbare Thron hat Theo sogar lektoriert. Und wir schreiben uns Briefe, richtig: Briefe, denn im Prinzip kann man das auch im Computer und per Email machen, nur tut das heutzutage niemand mehr, die Internetkommunikation hat die Briefkultur zerstört, an ihre Stelle ist eine hektische Dauerkommunikation getreten, eine Scheinkommunikation, 24 Stunden täglich Blabla. Außer Theo kann das niemand in meinem Bekanntenkreis, einen Emailbrief aufmerksam lesen, vielleicht mehrmals, und dann erst mal warten, eine Woche oder zwei, und dann sich besinnen, was man nun eigentlich schreiben will oder zu sagen hat, und erst dann beginnt langsam die Antwort.
Es gibt Dichter, die lesen ihre Gedichte bei öffentlichen Lesungen mindestens zweimal vor, jedes einzelne zweimal, weil sie überzeugt sind, daß man ein Gedicht durch einmalige Lektüre gar nicht auffassen kann. Ich teile diese Überzeugung. Gedichte sind anders zu lesen als Erzählungen oder Romane, konzentrierter, die Sukzession der Wörter aufhebend, in der Gleichzeitigkeit, die sie anstreben. Im Idealfall kann man sie nach wiederholter Lektüre auswendig. Romane weiden sich an der zeitlichen Folge und ihren Mäandern, und der Leser weidet sich darin und mit ihnen. Oft liest man in Gedichtbänden, ein Stück hier, eines dort, über die Monate oder Jahre hinweg, Hölderlin zum Beispiel, man liest die Gedichte immer wieder (während ich Romane wie den Zauberberg am Ende nur zweimal in meinem Leben gelesen haben werde, und zwar von hinten bis vorne). Einfach um die Sonne habe ich eine Zeitlang immer wieder aufgeschlagen, und diesen Sommer dann noch einmal den ganzen, zugegeben: schmalen Band gelesen.
Ein schmaler Gedichtband, das ist für mich fast ein Pleonasmus. Ein Gedichtband kann nicht dick sein, das wäre ein Unding. Natürlich lassen sich die sämtlichen Gedichtbände oder -zyklen eines Dichters in einem oder mehreren Bänden zusammenfassen, und man kann ausgewählte Gedichte herausgeben, was aber heikel ist, wie ich bei solchen Versuchen mehrmals feststellen mußte. Von Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren und in Mannheim aufgewachsen, könnte man gut und gern eine dicke Sammlung herausgeben, aber eine schmale wie die im Poesiealbum Nr. 368 entspricht ihm besser.
Eine dicke Sammlung gibt es von dem Baseler Dichter Rainer Brambach, aber der ist schon lange tot, 1983 gestorben, ein Jahr bevor Theobaldy in die Schweiz zog. Rainer Brambach? Zeitlebens und posthum eine Art Geheimdichter. Theobaldy hat ihm einen kleinen – wie soll man’s nennen? – einen poetischen Aufsatz gewidmet, der ist jetzt Teil des schmalen Gedichtbands namens Einfach um die Sonne (typisch Theobaldyscher Titel). Da bricht die Folge der Gedichte ab, und es kommt dieser Aufsatz, und dann noch ein ganz kurzer Prosatext zu Antonio Vivaldi, und nach den vier Jahreszeiten in Gedichtform ist Schluß, Winterstille. Das Wortkonzert zu Ende.
Man ahnt es, der schmale Gedichtband hat eine Struktur, er ist komponiert, und wie es oft bei Gedichtbänden der Fall ist, die einzelnen Gedichte folgen mehr oder weniger dem Jahreskreislauf, und der wird dann mit Vivaldi noch einmal in nuce wiederholt. Der Dichter hat keine Angst, traditionell zu wirken, im Gegenteil, das Jahrhundert der Avantgarden, weiß er, ist vorbei, jetzt geht es nicht mehr darum, auf Biegen und Brechen etwas Neues zu schaffen oder Altes zu zerstören, sondern darum, das Erreichte zu erweitern. Erneuern? Erweitern? Jedenfalls muß nichts und niemand mehr übertrumpft werden, weder Mörike noch Brambach. Dichter wie die hier genannten trumpfen nicht auf, das ist nicht ihre Sache. Diese Kämpfe liegen hinter ihnen. Man arbeitet zusammen, läßt sich von den Alten in die Hände spielen und spielt weiter, ins Blaue, Luftige, Freie hinein.
Ein blaues Band zieht sich durch dieses Büchlein, es stammt von Eduard Mörike, wurde von Brambach aufgenommen und weitergetragen, und Theobaldy läßt es im nächsten – jetzigen – Jahrhundert wehen. Jahrhunderte von Jahreszeiten:
Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte… (Mörike)
Die Dichter geben einander Fragen auf, sie lesen sich fragend:
Das blaue Band, wie Mörike es sah, flatternd in den Lüften, wo? Ich sehe einen Kondensstreifen quer über den Himmel gezogen – (Brambach)
Klar, im nächsten Jahrhundert zieren nicht nur Wolken den Himmel. Kondensstreifen, von Flugmaschinen hinterlassen, kreieren ihre eigenen Formen, veranstalten neue „Jahreszeitentänze“, und sie zergehen, wie Theobaldy nicht nur sieht, sondern schmeckt, auf dem „Gaumen des Himmels“. Sogar Genitivmetaphern sind, wenn sparsam gebraucht, wieder erlaubt!
Mein Lieblingsgedicht in dem schmalen dunkelblauen Band mit dem hellblauen Rheinlauf und dem Bodensee drauf (weil in der Kleinen Oberrheinischen Bibliothek erschienen) sind alle, besonders die mit den lakonischen Sätzen, die ich nie ganz verstehen werde und die deshalb im Kopf rumoren, wie schon gleich zu Anfang: „Vielen Antworten stellen wir die Fragen falsch“. Mein Lieblingsgedicht auch nach der dritten oder vierten Lektüre ist aber die Ballade aus dem Innenhof, die ebenfalls in nuce die vier Jahreszeiten enthält und deren Ablauf wie in einem Puppentheater vorführt. Vielleicht mag ich es deshalb besonders, weil es die bescheidenen Verhältnisse und die unspektakulären Orte nachzeichnet und auch ein wenig zelebriert, wie wenn am Feiertage…, doch es sind eher Wochentage, oder Alltagsfeiertage, mit Kastanien und zwei dicken Telephonbüchern, Gott hab sie selig, und Nachbarn in den Fenstern und unverwüstlichem Spatzengesindel, wie es vor Mörike schon Eichendorff kannte, aber nicht besang, der breitete lieber weit die Flügel aus. Es sind die Orte und Menschen, die Theobaldy von Anfang an rührten und manchmal ärgerten, was auch eine Art von Rührung ist. Es sind die Geschichten aus seiner Nachkriegskindheit, als man noch „Kohldampf schob“, und deren Weiterwirken in die jeweilige Gegenwart hinein.
Von Anfang an, das meint hier die frühen siebziger Jahre, als Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann und ein paar andere die Lyrik mit einem kräftigen Schuß Prosa durchmischten, um nicht zu sagen: erneuerten, erweiterten. Auch das geht weiter, durch die Jahre, sich wandelnd, raffinierter, schmäler.
Jürgen Theobaldy: Einfach um die Sonne. Klaus Isele Editor (Kleine Oberrheinische Bibliothek Nr. 5) 2021
Jürgen Theobaldy: Poesiealbum 386. Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022