Die POESIEGALERIE stellt ihren Autor*innen Fragen zum Schreiben
Heute die Antworten von Gerhard Ruiss
1. Schreibst du regelmäßig? Zu welchen Zeiten und an welchen Orten?
In meinen Hosen-, Jacken- und Manteltaschen stecken immer irgendwelche Zettel und Notizen zu Sachen, die ich nicht mehr vergessen will und mit denen ich später etwas anfangen möchte. Manchmal sind es Stichworte, manches Mal Vorformulierungen, manches Mal muss ich nur etwas wieder aus meinem Kopf bekommen, um ihn für etwas anderes frei zu haben, Sachen, die mir wichtig sind oder sein könnten. Das geht natürlich nicht, wenn man ständig an etwas denkt, um es nicht zu vergessen. Eigentlich notiere ich mir dauernd etwas, auch auf Manuskripten von mir, die ich korrigiere, Anfänge zu neuen Gedichten oder auf meinem Laptop, wenn ich ihn dabeihabe, Sätze oder Hinweise zu etwas, das ich liegen habe, oder ich schicke mir selber auf dem Mobiltelefon Nachrichten.
2. Ist Schreiben für dich eher Handwerk oder Inspiration? Wie passen diese beiden Pole zusammen?
Ich setze wo an, lasse es dann liegen, setze woanders fort, schließe die Arbeit an einem Text vorläufig ab und überarbeite ihn später wieder. In den Idealfällen inspiriert mich das bisher Vorliegende zur Weiterarbeit daran. Es kann sogar sein, dass vom ursprünglichen Ansatz gar nichts mehr übrig bleibt und ich einen Text ganz woanders hin weiterschreibe. Wieviel daran Handwerk ist und wieviel Inspiration, kann ich nicht sagen, vielleicht ist es auch nur Motivation, es ist auf jeden Fall Geläufigkeit und Assoziation, ich bin vertraut mit den Möglichkeiten, an Texten zu scheitern und so lange an ihnen zu arbeiten, bis ich sie nur mehr so stehen lassen kann oder sie endgültig aus meinem Leben streiche. Aus Routinegründen entsteht bei mir kein Text, es muss immer einen Impuls geben, dem ich folgen kann und der tragfähig bleibt, bis zum fertigen Ergebnis.
3. Wo findest du deine Themen? Eher in deinem Leben und unterwegs oder in Büchern und Medien?
Egal, wo und was: Das Leben, Bücher, Medien oder etwas anderes, alles ist voller Anknüpfungspunkte, um etwas fortzusetzen, zu bearbeiten, für Vorgeschichten, Nachbetrachtungen, Interventionen, Neuansätze, Variationen. Die größte Faszination üben auf mich Nebensächlichkeiten aus, Beiläufigkeiten, Banalitäten, Alltäglichkeiten. Eine große Bedeutung haben in meinem Schreiben Statusbearbeitungen und Routinebrüche, Überprüfungen, was Stand hält, und Rollen. Dementsprechend sprunghaft bin ich in meinen Themen und hin und her gerissen zwischen mir wichtigen Anliegen, und dementsprechend wichtig ist daher für mich beim Schreiben die Konzentration. Ich kann, wie vorher schon beim Lesen, bevor ich selbst zu schreiben begonnen habe, beim Schreiben die Welt um mich herum vollkommen ausblenden.
4. Welche Bedingungen muss ein gelungenes Gedicht für dich erfüllen? Oder: Wann bist du sicher, dass ein Gedicht fertig ist?
Ich habe vielstufige Überarbeitungsverfahren und Überarbeitungsprozesse. Bis ich ein Gedicht aus der Hand gebe, vergehen mitunter Jahre. Das gilt genauso für Sammlungen, die ich von mir aus zur Veröffentlichung frei gebe, was aber noch lange nicht heißt, dass sie von wem verlegt werden, nur dass ich sie dazu aus der Hand geben würde. Wirklich zufrieden bin ich mit einem Gedicht dann, wenn es im Entstehungsprozess standhält, bei der Wiederbegegnung in gedruckter Form und beim Wiedererleben in gelesener Form. Bevor das der Fall ist, erprobe ich die Gedichte in all diesen Varianten für mich selbst, wobei ich sie in den unterschiedlichsten Situationen lese und korrigiere, am liebsten, wo es überfüllt ist, laut zugeht oder mich etwas ablenken könnte. Wenn ich dann an ihnen dranbleiben kann, ist schon einmal ein Grundkriterium erfüllt, sie haben ihren eigenen Platz in wechselnden und störenden Umgebungen und ich muss für sie nicht eine bestimme Situation voraussetzen. Ganz wichtig dabei ist, dass ich sie untereinander verschieden kontextuiere oder zusammenfasse, sodass sie miteinander oder gegeneinander genauso wie ohne einander bestehen müssen. Am Ende muss jedes Gedicht für sich selbst stehen können und alle müssen es mit allen miteinander.
5. Trifft auf dich das Diktum zu, dass Dichter*innen Seismographen ihrer Zeit sind – und wenn ja, inwiefern? Anders gefragt: Siehst du für dich als Dichterin eine Aufgabe in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze?
Die Gesellschaft wirkt auf mich ein, ich wirke auf sie ein. Ich kann die Welt und gesellschaftlichen Verhältnisse auf meine Lebensumgebung reduzieren, ich kann sie sogar aus meinem Schreiben ausschließen, sie bleiben dennoch auf mich und für mein Schreiben nicht ohne Wirkung. Das muss ja nicht gleich heißen, dass ich einen Sozialkolportageroman nach dem anderen schreibe, aber in sozialen Zusammenhängen stehe ich immer. Das wird einem spätestens dann klar, wenn man nach einem Nurschreibtag schnell noch vor dem Zusperren etwas einkaufen gehen muss und Orientierungsschwierigkeiten hat, was man überhaupt einkaufen soll. Ich sehe keine Aufgabe von Autorinnen und Autoren zur tagesaktuellen Kommentierung von Geschehnissen, aber eine zur Erfassung der größeren Zusammenhänge schon. So etwas muss man sich aber erst gar nicht zur Aufgabe machen, das geschieht, wenn man an sich Ansprüche stellt, ganz von selbst.
Für solche Einstufungen des Schreibens wie seismographische Zeitzeugenschaft gibt es eine sehr einfache Erklärung, wenn man darauf trainiert ist, Dinge vorwegzunehmen, kann man viel früher abschätzen, was aus ihnen wird, abgesehen davon, dass man in der Lage ist, sie schneller als andere textlich zu erfassen. Genauso verhält es sich mit der Ausdrucksfähigkeit des für andere Unsichtbaren. Wenn man möchte, kann man das für ein außergewöhnliches Empfinden oder für ein Vorhersehen halten, es ist aber eher ein geschulter konzentrierter Umgang mit Wahrnehmungen, gepaart mit der entsprechenden Vorstellungs- und sprachlichen Gestaltungskraft.
6. Kannst du mit dem Satz „Dichten ist ein brotloser Beruf“ etwas anfangen? Oder besteht in deinem Leben eine Spannung zwischen Schreiben und Einkommen?
Mein ganzes Berufsleben hat darauf beruht, dass ich mit etwas und von etwas leben wollte, und meine früheste Erfahrung war, das ist selten deckungsgleich der Fall, und wenn es deckungsgleich wird, beginnt das, womit man leben wollte, sich in eine Richtung zu verändern, die von einem nicht beabsichtigt war. Ich habe für mich die Berufsbezeichnung Dichter oder die anderen vorhandenen Berufsbegriffe für das Schreiben nur in der Form in Anspruch genommen, dass ich in urheberrechtlicher Hinsicht Autor war. Und selbst Autor wurde ich nicht ausschließlich, sondern auch. Wie übrigens genauso alles andere. Wenn man die beruflichen Umstände kennt, weiß man, dass es keinen Grund zu glauben gibt, dass man mit Dichten seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Man muss Modelle finden, die das Dichten ermöglichen, ohne dass man in materieller Hinsicht davon abhängt. Bei mir waren das immer Umfinanzierungen, ich habe Geld mit literaturnahen Tätigkeiten verdient, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, phasenweise mit Nebenbeschäftigungen als Darsteller und mit gehobenem Musikentertainment, wo ich niemandem lange erklären musste, warum ich mein Geld wert war. Ein lange Zeit nicht angenehmer Nebeneffekt war, dass im Lauf der Jahre viele meiner literarischen Projekte liegen geblieben sind, andererseits ist das aber jetzt der Fundus, aus dem ich bereits seit mehren Jahren bei meiner Weiterarbeit an literarischen Projekten schöpfe.
7. Welche Autorinnen und Autoren, welche Gedichte haben dich geprägt, fürs Schreiben sowie fürs Leben?
Genereller die Gedichte Kästners, Heines oder von Villon/Zech, Brecht, Bachmann, Lavant, Trakl, Celan aus den Generationen meiner Vorgänger. Von meinen Zeitgenossen Jandl, Artmann, Fried, Gerstl, Wallner, Achleitner, Mayröcker, die noch lebenden lasse ich jetzt aus, aber eigentlich waren und sind es immer einzelne Gedichte, die für mich wichtig waren und geblieben sind, und da erweitert sich der Kreis der Dichterinnen und Dichter um die Nichtdichterinnen und Nichtdichter, die das eine oder andere Gedicht geschrieben haben, wie Nestroy mit „O Knute!“ oder Martin Niemöller: „Als die Nazis die Kommunisten holten … “ oder Doderer mit seinem Studlhofstiegengedicht. Und dann gibt es die vielen für mich wichtigen Gedichte der bekannten Dichterinnen und Dichter: „An die Nachgeborenen“ von Brecht, „Alle Tage“ von Bachmann, „Todesfuge“ von Celan, „schtzngrmm“ von Jandl, „Blumenstanderl“ von Artmann, „Humorlos“ von Fried, es ist unmöglich, alle aufzuzählen. Am meisten geprägt haben mich aber sicher die zahlreichen Kinderreime in meinen frühesten Lebensjahren, von denen ich nur noch weiß, wie ich von ihnen fasziniert war. Es ging um kleine Tiere und Lebensregeln. Ich habe ihren Klang bis heute in den Ohren, wie den der Schiller-Balladen, mit dem Reimzwang, den sie bei mir ausgelöst haben und den ich mir jahrelang abtrainieren musste. Dann haben mich natürlich die Lieder Oswalds von Wolkenstein beeindruckt und die berndeutschen Chansons von Mani Matter, mit beiden habe ich mich dann beruflich beschäftigt, sowie mit Auswahlbänden wie Enzensbergers „Museum der Modernen Poesie“, das mich geradezu schockiert hat.
8. Woran schreibst du gerade bzw. woran hast du zuletzt geschrieben?
Soeben ist mein dritter und letzter Band der „Kanzlergedichte“ erschienen, der eine jahrzehntelange Arbeit abschließt. Die Gedichte der Kanzlergedichtbände sind in insgesamt 25 Jahren mit einem jeweils eigenen Konzept für jeden Band entstanden. Sie setzen die politischen Dichtungen, die Spott- und die Herrschaftsdichtung der früheren Jahrhunderte und Jahrzehnte fort, aber zu den geänderten Bedingungen der politischen Darstellungen der letzten 25 Jahre. Sie sollten das Gegengewicht zu meinen Nachdichtungen der von mir vermuteten höfischen Minnedichtung von Oswald von Wolkenstein sein, bevor ich dahintergekommen bin, wie spöttisch und kritisch es in den Liedern von Oswald von Wolkenstein zugeht. Im Moment arbeite ich an mehreren Gedichtsammlungsprojekten im Finalstadium gleichzeitig. An „Reimverbote und andere Schreibaufträge“ nach Reimverbotsvorgaben von Klaus Zeyringer, an „Lindsay liebt. Klatschtratschgedichte“, an „Wie eine wirklich nicht aufregende Welt mir mein schönes Leben versaute. Ich-Gedichte“, an „Krieg. Gedichte“ und dann an meinem neuen Album mit Dialektsongs, für das es noch keinen Namen gibt. Das heißt, ich schließe gerade die Manuskripte dieser Gedichtsammlungen ab, ohne dass ich jetzt schon eine Idee habe, was mit ihnen weiter passieren soll, bzw. bin mit dem Album drei Mal im Monat einen halben Tag zur Umsetzung der geschriebenen Liedtexte im Studio, das höchstwahrscheinlich heuer im Herbst bei redpmusic in Wien erscheinen wird. Ich muss sie auch abschließen, um mit neuen Ansätzen weiterschreiben zu können und mich nicht immer nur in dem zu drehen, was ich bisher gemacht habe. Ich habe z.B. lange mit dem Begriff „Schönheit“ in Gedichten nichts anfangen können, damit möchte ich mich mehr beschäftigen. Vielleicht gelingt mir damit gar nichts, weil mir das Analytische von Gedichten wichtiger ist. Möglichweise geht es für mich gar nicht, vorbehaltlos, nicht gewarnt mit etwas umzugehen. Ich weiß es eben nicht. Ich weiß inzwischen aber, es gibt auch für mich „schöne“ Gedichte: „Rose, oh reiner Widerspruch / Lust, Niemandes Schlaf zu sein / unter so viel / Lidern“, der Grabspruch von Rilke. Ich bin vor vielen Jahren extra auf den Friedhof von Raron im Schweizer Kanton Wallis gefahren, um ihn an Ort und Stelle zu lesen. Ich habe Rilke nicht zufällig unter den für mich wichtigen Dichterinnen und Dichtern weggelassen, das war er nämlich nie.
9. Gibt es eine Frage, die du dir gerne selbst stellen und beantworten möchtest?
Eine Frage, die mir oft gestellt wurde und die sich mir so nie gestellt hat, war, wie sich gesellschaftliches und berufspolitische Engagement und das Schreiben von Gedichten vereinbaren lassen. Sie lassen sich nicht nur vereinbaren, sie ergänzen sich sogar. Es gibt einige sehr markante Unterschiede in den Textsorten. Die einen, wie Appelle, Aufrufe und dergleichen mehr haben zumeist ein sehr schnelles Ablaufdatum und kommen dann zu den Ablagen oder werden nicht archiviert vergessen. Prosa, Stücke oder Romane haben eine längere Laufzeit, können aber mitunter ebenfalls erstaunlich rasch altern. Gedichte haben den längsten Atem von allen Textsorten, sie werden nicht zwangsläufig unaktueller, selbst wenn die unmittelbar dafür ausschlaggebenden Anlässe und Zusammenhänge schon längst nicht mehr existieren.
Gedichte verhindern zum Beispiel keine Kriege, sie können sich aber gegen Gewalt und Kriegspropaganda richten und verhindern, dass außer Kriegsrhetorik nur noch Sprachlosigkeit herrscht und überbleibt. Gedichte können Behauptungen widersprechen, dass Kriege unvermeidbar sind und es ein Recht auf Töten und Zerstörung gibt. Man kann sich der Kriegspropaganda und Kriegsrhetorik zwar vielleicht nicht entziehen, man muss sie aber nicht auch noch glauben. Das beste Beispiel dafür ist für mich der unbeirrbar gegen den Krieg und die Kriegspropaganda anschreibende Karl Kraus, der selbst in den fortgeschrittenen Weltkriegsjahren 1916, 1917 und 1918 seine Haltung zum Krieg nicht änderte und seine gegen den Krieg gerichteten „Worte in Versen“-Bücher herausbrachte, mit bereits einem ersten Teil seines 1918 nach dem Fall der Zensur erschienenen Stücks „Die letzten Tage der Menschheit“. Was mich betrifft: Ich kann gar nicht anders, ich muss mich mit allen meinen Möglichkeiten und Mitteln dagegen wehren, dass Unrecht als unabänderliche Tatsache hingenommen wird.