Natascha Gruver liest Eleonore Webers Die Bäume am Abhang
Momentaufnahmen einer Familie, verwoben in einem Geflecht aus Erinnerungen und Beziehungen, zeigt und erzählt Eleonore Webers Gedichtzyklus „Die Bäume am Abhang“, inspiriert von Rilkes „Duineser Elegien“ und laut Auskunft des Verlags „konzipiert als Sprechtext für mehrere Stimmen“. Ich kann mir gut vorstellen, wie diese Gedichte als szenische Lesung oder Performance zum Tragen kommen, ihre lyrische Wirkung in einer solchen erst so richtig entfalten.
Cover © Verlag fabrik.transit
Denn erzählt werden, in nichtlinearer Abfolge, Momentaufnahmen einer Familie aus der gedanklichen Innenperspektive der Frauen dieser Familie, welche uns Einblicke in ihre Gedanken- und Stimmungswelten geben. Die biografischen und autobiografischen Szenen werden aus den Frauenfiguren Tochter (Autorin), Mutter, Mutter der Mutter und Tochter der Tochter heraus entwickelt. Der generationenübergreifende, matrilineare Zusammenhang bearbeitet Themen wie Ehe, Ehebruch, Bürgerlichkeit, Häuslichkeit und Sorge – um sich, um andere. Es gibt aber auch besinnliche Momente der Innen- und Außenschau wie die Betrachtung einer Blume, der Blätter am Ast eines Baumes oder ein Nachdenken über die „Vorzukunft“:
FUTURUM denkt die mutter das ginge ja noch aber futurum exactum ist eine besonders perfide zeitform du denkst in die zukunft in der form der vergangenheit morgen um diese zeit wird er mit der anderen frau sex gehabt haben das „es-wird-gewesen-sein“ der verpassten gelegenheit vor der vorzukunft habe ich wirklich angst
Stilistisch setzt Weber gekonnt ein serielles Verfahren ein, bei dem ein Thema oder eine bestimmte Wortfolge im nächsten Gedicht weitergeführt wird. Dadurch wird ein narrativer Zusammenhang hergestellt, bei dem gleichzeitig alles offengehalten wird und unabgeschlossen bleibt.
Bäume am Abhang, Kirche im Netz
Diese Weiterführung finde ich vom Leseerlebnis her sehr gelungen. Die assoziative, dynamisch-offene Abfolge und Anordnung der Gedichte erzeugt ein Geflecht, ein Gewebe, das zeigt, wie diese Frauenleben in- und miteinander verstrickt sind. Als Beispiel dieses Verfahrens und damit sich die Leser:innen etwas vorstellen könne – ein Auszug aus drei auf diese Weise zusammenhängenden Gedichten:
STIMMT NICHT ein satz ist ein satz ist ein satz führt aber nicht weiter auch dieses patt hat sie schon erlebt dass sprache nicht zu dem passt was gesagt wird mimik nicht zu den gesichtern zu schnell oder zu langsam stimme zu hoch oder zu tief klingt wie auf helium (…) ein satz kümmert sich nicht EINEN SATZ kümmert es nicht er hat keine umgebung kein umfeld denkt die tochter diesen teppich zum beispiel nimmt er nicht wahr und das lied das da gerade im hintergrund spielt obwohl das die dinge sind die bleiben im auge im ohr als nahaufnahme und in zeitlupe sind es die bäume am abhang VOM BAUM am abhang wissen wir wenig irgendein baum der bleibt und wir sehen ihn täglich wieder das ist seltsam der baum erinnert mich an den satz (…)
Was sich die Frauen so denken
Die Gedichte beschreiben Szenen ihrer Gedankenwelt. Es geht nicht so sehr um äußere Ereignisse, sondern eher darum, was die Frauen in bestimmten Momenten ihres Lebens denken, fühlen, worüber sie sich sorgen. Die Tochter beschäftigen andere Themen als die Mutter oder die Mutter der Mutter; manchmal sind es aber auch dieselben Themen (wie z. B. Beziehung, Ehe), die in anderer Weise reflektiert werden. Die Themen und Alltagsmomente werden dialogisch aufeinander bezogen und dynamisch in Bewegung gesetzt. Neben Ehe und Untreue geht es um mittelständische Bürgerlichkeit, die Bedeutung von Geschirr und Möbeln (Biedermeier), des eigenen Hauses, des Gartens samt Haushund.
Geht es diesen Frauen gut? Sind sie, waren sie glücklich? Haben sie ein erfülltes Leben gehabt? In einem ersten Impuls dachte ich an „Bäume am Abhang – Menschen am Abgrund“ als Titel für diese Rezension. Doch dieser Titel wäre zu stark und übertrieben, erkannte ich sogleich. Denn diese Frauen befinden sich nicht am Abgrund, sie führen kein exaltiertes, von Dramen erfülltes Leben der Extreme, ganz im Gegenteil: Webers Gedichtzyklus ist eher das Porträt unauffälliger österreichischer Frauenleben; von Frauen, die, wenn überhaupt, dann im Stillen (vor sich hin) leiden. Und deren Leid und Enttäuschung vom Leben (Schlagwort: Untreue des Ehemannes) gerade nicht groß genug ist, um aus der Mittelschichts-Biederkeit auszubrechen, um etwas Verrücktes zu tun, etwas ganz Neues anzufangen.
Wenn „Bäume am Abhang“ in irgendeiner Weise eine metaphorische Anspielung sein sollte, dann würde ich diese verstehen als eine Schräglage, als ein implizites, leises Gleiten auf einen Abgrund zu, der aber (zum Glück) nie erreicht wird, denn wie die Bäume bleiben auch die Frauen in diesem Zyklus fest in ihrem Abhang verwurzelt.
Eleonore Weber: Die Bäume am Abhang. Verlag fabrik.transit, Wien 2022. 102 Seiten, Euro 13,–