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Lyrische Reisen

Lyrische Reisen

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Klaus Ebner liest Cornelia Travniceks Assu. Aus Reisen


Das Inhaltsverzeichnis gleicht einer Auflistung osteuropäischer und vor allem asiatischer Städte und Ortschaften. Es sind Aufenthaltsstationen einer Autorin, die nicht nur eine Reihe interessanter Reisen unternommen hat, sondern als ausgebildete Sinologin einen besonderen Zugang zu den ostasiatischen Kulturen hat und dies zum Glück der Leser*innen auch zeigt.

Die 1987 in St. Pölten geborene Cornelia Travnicek studierte Informatik und Sinologie, und ihre Tätigkeiten reichen von der EDV und der Übersetzung chinesischer Prosa und Lyrik hin zum eigenen Literaturschaffen. Romane, Kinderbücher, Gedichte; Literaturpreise, unter anderem der Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2012 in Klagenfurt, und zahlreiche kleinere Publikationen in Printmedien.

Assu. Aus Reisen ist der dritte Lyrikband der Autorin und erschien in sorgfältiger Gestaltung in der inzwischen gut etablierten Lyrikreihe des Limbus Verlags.

Viele Gedichte tragen die jeweils angesprochenen Ortsnamen im Titel, doch darüber befinden sich originellerweise die zugehörigen geografischen Koordinaten: etwa bei Tokyo „35° 41’ Nord, 139° 46’ Ost“ und bei Isfahan „32° 39’ Nord, 51° 41’ Ost“. Zudem wird das Buch mit mehreren Abbildungen von Einreisestempeln im Reisepass der Autorin und ihren Visadokumenten optisch aufgelockert.

Cover © Limbus Verlag

Cover Travnicek Cornelia Assu Aus Reisen

Reiseeindrücke

Cornelia Travnicek gibt viele persönliche Eindrücke wieder. Oft wirken diese sehr poetisch, obwohl sie mitunter in eine viel weniger poetische Realität eingebettet sind, die dem aufmerksamen Blick der Autorin keineswegs entgeht. In „U-Bahn Teheran“ heißt es etwa:

Du setzt dich neben eine müde Wanderin
Eingeschlafen mit ihren Stöcken in der Hand
Der Schal von ihrem Kopf gerutscht
Du riechst in ihrem Haar
Noch den Wind vom Damawand
Und du tust so wie alle anderen
Als wäre das trennende Glas
Nicht da

In den Iran war Travnicek als Autorin geladen; ein Umstand, der ihr einen eher untypischen Zugang bot, weil sie somit keineswegs nur eine „gewöhnliche“ Touristin war. Eine Handvoll Gedichte, die sich auf iranische Städte beziehen, lassen einerseits die alte persische Kultur anklingen und andererseits die bedrückende religiös-politische Situation im Land.

Nach einem Gedicht zu Czernowitz/Tscherniwzi, das Jahre vor dem russländischen Überfall auf die Ukraine geschrieben wurde, heißt es in Anlehnung an Bertolt Brecht in „Stell dir vor“:

Stell dir vor	
        es ist Krieg

Und jeder fährt hin

Dieser kurze Text lässt sich vielfältig interpretieren. Einerseits müssen wir jeden Tag mitansehen, was es bedeutet, wenn Hunderttausende in einen Krieg geworfen werden, um einander zu massakrieren; andererseits lese ich es auch als eine Art Hommage an die vielen Ukrainer*innen, die sich freiwillig und mit geradezu unfassbarer Motivation den russländischen Aggressoren entgegenstellen.

Bertolt Brechts Zeilen „Stell dir vor, es ist Krieg, und niemand geht hin“ wurden ja vielfach von pazifischen Bewegungen als Slogan benutzt. Doch wer Brechts Gedicht kennt, weiß, dass er es umgekehrt meinte, sinngemäß nämlich: Wenn niemand, und damit meinte er konkret die Arbeiterschaft, in den Krieg ginge, dann würden es sich wieder nur die Reichen und die Ausbeuter unter sich ausmachen, und das Proletariat hätte abermals das Nachsehen. Auch angesichts dieser beiden völlig konträren Auslegungen des Satzes wirken Travniceks Zeilen durchaus doppelbödig und machen nachdenklich.

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Formexperimente

Cornelia Travnicek arbeitet generell mit freien Rhythmen und kommt ohne Satzzeichen aus. Vereinzelte Zeilen sind eingerückt und stellen quasi eine hervorgehobene Fortsetzung des darüberstehenden Verses dar. Auffällig, weil heutzutage selten geworden, ist, dass jeder Vers, mit Ausnahme der wenigen eingerückten, mit einem großen Anfangsbuchstaben beginnt. So etwa das Gedicht „Sonnenaufgang am Taj Mahal“, das inhaltlich gewissermaßen unterschiedliche Kulturen zusammenführt:

Deine Krone Mumtaz
Spiegelt sich im Wasser des Paradieses
Ihr einziger Makel ihre große Liebe
Die Muster der Jali wandern über die vier Gärten
Fünf Jahreszeiten lang
Eine Träne die nicht fallen kann
Und ihr unsichtbarer schwarzer Schatten
Schneewittchen Schneewittchen verzweifeltes Weiß

In mehreren Gedichten spielt die Autorin mit der Form, wobei sie mitunter experimentell wird. Interessant in diesem Sinne der Text „Isfahan“, der in mehreren Varianten existiert. Nach einer Standardversion mit üblicher Groß- und Kleinschreibung und groß geschriebenen Versanfängen gibt es eine Variante in durchgehender Kleinschreibung, danach wird der Text rechtsbündig, und schließlich beginnt ein ausgefalleneres Experiment: Zuerst werden die Buchstaben der ganzen Zeile in umgekehrter Reihenfolge geschrieben, und in einer weiteren Variante lässt Travnicek zudem die Vokale ausfallen. Das hat damit zu tun, dass die persisch-arabische Schrift im Gegensatz zur lateinischen linksläufig ist, außerdem werden kurze Vokale nicht geschrieben – die diakritischen Vokalzeichen, die es sehr wohl gibt, werden eigentlich nur in Kinderbüchern und im Koran verwendet. Der gespiegelte Text soll so einen Eindruck persisch-arabischer Verschriftlichung vermitteln. Ich finde es allerdings schade, dass die Autorin den Text nicht auch gleich in persischer Schrift wiedergegeben hat; immerhin finden sich ein paar chinesische Wörter und Phrasen im Buch, selbstverständlich in Originalschrift, die angenehm zur Ästhetik des Schriftbildes beiträgt.

Den Abschluss des Buches bildet ein mehrseitiges Gedicht mit dem Titel „Von wo wir stehen“, das gewissermaßen das Reisen und die Fremde der Heimat gegenüberstellt, diese unter neuen Gesichtspunkten betrachtet und mitunter durch ein Zitat eine tiefere Dimension erzeugt. Der Anfang lautet:

Heimat.

Du gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit

In dir
Wächst Mohn und Gedächtnis

Etwaiger Gefühlsduselei lässt Travnicek jedoch keinen Raum. Vermeintlich idyllische Szenerien werden durch- oder zerbrochen von der harten Realität; mehrere Seiten weiter heißt es in diesem Text:

Der Nebel kann sich nie entschließen die Au freizugeben
Ein Fasan überquert wieder und wieder dieselbe Straße
Die Mülltonnen stehen lange noch abwartend am
             Straßenrand
Der Sonnenuntergang hinter den Kraftwerksschloten
Wie waldentbrannt

Eine gelungene Wortschöpfung am Ende dieser Passage, weil neben der wörtlich zu verstehenden Semantik auch ein wohl berechtigtes „wutentbrannt“ mitschwingt. Zudem ein gutes Beispiel der Mischung von bildhafter Poesie und kritisch-aufmerksamer Betrachtung, die sich durch die meisten Gedichte dieses Buches zieht.


Cornelia Travnicek: Assu. Aus Reisen. Limbus, Innsbruck-Wien, 2023. 96 Seiten. Euro 15,–

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